FRANZ HESSEL – INBEGRIFF DES FLANEURS

Berlin, Potsdamer Platz, 1930 (Bundesarchiv, Bild 146-1998-012-36A / CC-BY-SA)

„Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung.“ Mit diesen Worten leitete der Schriftsteller Franz Hessel jenes Buch ein, das ihn zum Inbegriff des Flaneurs werden ließ. Es ist der 1929 erschienene Band „Spazieren in Berlin“, in dem der Erzähler ausgedehnte Streifzüge durch die Stadt unternimmt: So etwa schlendert er über den Kurfürstendamm, erkundet das Zeitungsviertel in der Friedrichstadt, berichtet von einem Sechstage-Radrennen im Sportpalast, fährt mit dem Ausflugsdampfer nach Köpenick, besucht Fabriken ebenso wie die großen Kinopaläste und die kleinen Kaschemmen, und er scheut auch nicht davor zurück, von den oft tristen Lebensbedingungen in den Hinterhöfen der Arbeiterviertel zu erzählen. Als ein „Lehrbuch der Kunst, in Berlin spazieren zu gehen“ wurde das Buch auf dem Umschlag der ersten Ausgabe angekündigt.

„Spazieren in Berlin“ wurde von den Zeitgenossen sehr positiv aufgenommen – genauso wie die meisten anderen Werke Hessels, der als Autor, Übersetzer und Verlagslektor eine der prägenden Persönlichkeiten der deutschsprachigen Literaturszene der 1920er und -30er Jahre war. Heutzutage hingegen ist Franz Hessel eher ein Insider-Tipp – und sein Name weit weniger präsent als etwa jener seines Sohnes Stéphane Hessel, der mit seiner 2010 erstmals publizierten Streitschrift „Empört Euch!“ ein internationales Millionenpublikum erreicht hat.

Geboren wurde Franz Hessel am 21.11.1880 in der Hafenstadt Stettin (heute Szczecin/Polen) an der Ostsee, wo sein Vater, Heinrich Hessel, als Getreidehändler zu einigem Wohlstand gelangt war. 1888 übersiedelte die Familie nach Berlin, in das damals sehr vornehme Tiergartenviertel, den, wie es Hessel nennt, „alten Westen“. In „Spazieren in Berlin“ suchte Hessel noch einmal den Stadtteil seiner Kindheit auf und stellte fest: „ ‚Man‘ wohnt nicht mehr im alten Westen. Schon um die Jahrhundertwende zogen die wohlhabenden Familien fort in die Gegend des Kurfürstendamms und später noch weiter bis nach Westend oder Dahlem, wenn sie es nicht gar bis zu einer Grunewaldvilla brachten. Aber manche von uns, die im alten Westen Kinder waren, haben eine Anhänglichkeit an seine Straßen und Häuser, denen eigentlich nicht viel Besonderes anzusehn ist, behalten. Uns ist es ein Erlebnis, eine der Treppen hinaufzusteigen, die ehedem zu Freunden und Verwandten führten. Es haftet soviel Erinnerung sowohl an den nüchtern gediegenen Aufgängen mit braunem Holzgeländer, farbloser Wand und den graugeritzten Gestalten im Fensterglas als auch an gewissen Palasttreppen mit steil zu ersteigendem Hochparterre, falscher Marmorwand und pompöser Glasmalerei. Führt uns ein Anlaß oder Vorwand – zum Beispiel, ein möbliertes Zimmer zu besichtigen – in eine der altvertrauten Wohnungen, so finden wir unter neuer Schicht die frühere Welt wieder: hinter verbarrikadierenden Schränken die Glasschiebetür, die einst Salon und Berliner Zimmer trennte, im sichtbaren schrägen Diwan den Schemen des Flügels, der damals hier stand mit seiner Samtdecke und den Familienphotographien. Nahe dem Fenster ist in dem ärmlichen Topfblumengestell noch etwas von der Tropenwelt der Zimmerpflanzen geblieben. Von dem Hautpas am Hoffenster des Berliner Zimmers sehen wir auf den Hof mit dem blassen Gras, das zwischen den Steinen sprießt wie einst. Nur der Pferdestall und die Wagenremise des alten Generals aus der Beletage sind verdrängt durch eine Autoreparaturwerkstatt.“

Franz Hessels Eltern gehörten dem liberalen jüdischen Großbürgertum an, das sich um Assimilation bemühte und seine Kinder (neben Franz waren es noch zwei Brüder – einer davon der später sehr renommierte Historiker Alfred Hessel – und eine Schwester) protestantisch taufen ließ. Als der Vater 1900 starb, erbte Franz Hessel ein beträchtliches Vermögen, das ihm ermöglichte, über lange Zeit ein finanziell sorgenfreies Leben zu führen. 1903 übersiedelte Franz Hessel nach München, studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie und schloss sich der Schwabinger Bohème an. Im Künstlerkreis rund um die Schriftsteller Stefan George und Karl Wolfskehl lernte Hessel die Malerin und Schriftstellerin Franziska zu Reventlow (1871-1918) kennen. Gemeinsam mit ihr und dem Maler Bohdan von Suchocki (1863 – ca. 1955) lebte Franz Hessel rund zweieinhalb Jahre lang in einer Wohngemeinschaft, zu der auch Reventlows Sohn Rolf (1897-1981) gehörte, der damals noch ein Kind war. Der aus Polen stammende Suchocki war der Geliebte der wegen ihres unkonventionellen Lebensstils oft auch als „Skandalgräfin“ betitelten Reventlow, während Hessel, wie aus den Tagebüchern Reventlows hervorgeht, auf die Rolle des Financiers der Gemeinschaft reduziert blieb.

Seine Kindheit und Jugend und auch die Zeit in der Schwabinger Bohème bildeten die stark autobiographisch geprägte Basis für Franz Hessels ersten Roman, der den Titel „Der Kramladen des Glücks“ trägt. Als das Buch 1913 erschien, lebte Hessel allerdings nicht mehr in München. 1906 war er nach Paris übersiedelt, wo er, der hervorragend Französisch sprach, sehr rasch Zugang zu den Künstlerkreisen der Stadt fand. Franz Hessel war Stammgast im „Café du Dôme“, dem legendären Künstler-Treff am Boulevard de Montparnasse. Dort machte er zwei für sein Leben entscheidende Bekanntschaften: Schon bald nach seiner Übersiedlung nach Paris lernte er im „Dôme“ den Schriftsteller, Kritiker, Übersetzer und Kunstsammler Henri-Pierre Roché (1879-1959) kennen, mit dem ihn eine jahrelange enge Freundschaft verband. Die Grundlage dafür war neben Sympathie wohl auch die hohe intellektuelle Übereinstimmung der beiden: ebenso wie Hessel strebte auch Roché das Ideal eines im klassischen Sinne universell gebildeten Menschen an, und ebenso wie Hessel war auch der in Paris geborene Roché ein Vermittler zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Welt – so etwa machte er durch seine Übersetzung das französische Publikum mit Arthur Schnitzlers Stück „Der Reigen“ bekannt („La Ronde“, 1902).

Im Herbst 1912 lernte Franz Hessel im „Café du Dôme“ die Berliner Malerin und Käthe Kollwitz-Schülerin Helen Grund (1886-1982) kennen. Sie war mit zwei Freundinnen nach Paris gekommen, um die Kunstszene der Metropole kennen zu lernen. Franz Hessel zeigte ihr die Stadt, vermittelte Kontakte – und machte die junge Frau auch mit seinem Freund Henri-Pierre Roché bekannt. Als Helen nach ein paar Monaten nach Berlin zurückkehrte, folgte ihr Franz Hessel: Denn ein Dreivierteljahr nach ihrem ersten Treffen im „Café du Dôme“ heirateten die beiden im Sommer 1913 in der deutschen Hauptstadt. Am 27.7.1914 kam der erste der beiden Söhne des Paares, Ulrich Hessel, zur Welt, am 20.10.1917 Stéphane, der zweite. Bis 1919 lebte die Familie in Berlin, dann übersiedelten die Hessels nach Hohenschäftlarn bei München. Allerdings war Franz Hessel im Leben seiner beiden Söhne nur wenig präsent. Gleich nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich Hessel freiwillig zum Militärdienst gemeldet – was seine Frau sehr empörte, die sich mit dem eben erst geborenen Sohn Ulrich im Stich gelassen fühlte. Dies war der Ausgangspunkt für eine allmähliche Entfremdung zwischen den Ehepartnern, die später zur häufigen Abwesenheit Franz Hessels von seiner Familie führte. Der temperamentvollen, lebensfreudigen Helen fiel es zunehmend schwer, Verständnis aufzubringen für ihren Mann, der von vielen Zeitgenossen als schweigsam und weltfremd beschrieben wurde. So etwa meinte Kurt Tucholsky über Franz Hessel, dieser spiele „ein wenig kokett, den Lebensuntüchtigen: Ich bin nämlich ein stiller, bescheidener Dichter“. Das sei, so Tucholsky, „nicht unangenehm, nur ein wenig monoton“ (aus: Kurt Tucholsky „Auf dem Nachttisch“).

Helen Hessel wandte sich schon bald nach der Heirat anderen Männern zu – Franz Hessel wusste davon und duldete es. Eine dramatische Zuspitzung erfuhr die Situation allerdings, als Henri-Pierre Roché 1920 zum Geliebten Helens wurde. 1921 ließen sich Helen und Franz Hessel scheiden, eine Verbindung von Helen und Henri-Pierre aber scheiterte – nach heftigen Konflikten – daran, dass sich Roché auch an eine langjährige Geliebte in Paris gebunden fühlte. 1922 heirateten Helen und Franz Hessel einander zum zweiten Mal, doch bis in die frühen 1930er Jahre bestand das Dreiecksverhältnis zwischen Helen, Franz und Henri-Pierre, und alle drei gingen in dieser Zeit auch noch andere Beziehungen ein. Auf die Freundschaft der beiden Männer aber schien diese Konstellation keinen Einfluss gehabt zu haben – ihre Briefe und Notizen lassen auf ein durchaus harmonisches Einvernehmen schließen. Henri-Pierre Roché verarbeitete die „ménage à trois“ später in dem Roman „Jules et Jim“, den er zunächst – bezeichnenderweise – mit „Une amitié“ („Eine Freundschaft“) betitelte. „Jules et Jim“ erschien 1953 im Pariser Verlag Gallimard. Das Werk wurde zwar von der Kritik positiv beurteilt und der damals 74-jährige Roché erhielt für das Buch einen Literaturpreis, dennoch fand der Roman keine breitere Beachtung. Erst als der Regisseur François Truffaut auf ihn aufmerksam wurde – er hatte das Buch in einem Pariser Antiquariat entdeckt – begann die Erfolgsgeschichte des Werkes. 1962 brachte Truffaut seine Verfilmung von „Jules et Jim“ heraus: mit Jeanne Moreau in der weiblichen Hauptrolle der Catherine (benannt nach Helen Hessels zweitem Vornamen), mit Oskar Werner, der in der Rolle des Jules sehr stark an Franz Hessel erinnerte und mit Henri Serre als Jim (Jim war Helen Hessels Kosename für Henri-Pierre Roché gewesen). Die Identität der realen Vorbilder für Roman und Film wurde allerdings erst in den 1980er Jahren, nach dem Tod von Helen Hessel (die 1982, 96-jährig, in Paris starb), bekannt gegeben.

1925 übersiedelten Helen und Franz Hessel mit ihren beiden Söhnen nach Paris, aber während Helen dort blieb und von 1926 bis 1937 sehr erfolgreich als Modekorrespondentin für die „Frankfurter Zeitung“ tätig war, kehrte Franz Hessel 1927 wieder nach Berlin zurück. In den folgenden Jahren sollte er immer wieder zwischen den beiden Städten hin und her pendeln, seinen Lebensmittelpunkt aber hatte er in Deutschland. Hessel hatte durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg einen großen Teil seines ererbten Vermögens verloren und war somit gezwungen, eine bezahlte berufliche Tätigkeit auszuüben. Ab den frühen 1920er Jahren arbeitete Franz Hessel daher als Lektor für den Rowohlt Verlag, für den er auch zahlreiche literarische Werke aus dem Französischen übersetzte. Hessel initiierte die 44-bändige, überaus erfolgreiche Balzac-Taschenausgabe des Verlages; und er übersetzte, gemeinsam mit seinem Freund Walter Benjamin, zwei Bücher aus Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ins Deutsche. Als Lektor setzte sich Hessel engagiert für junge Autorinnen und Autoren ein, so etwa für Mascha Kaléko, die ihn als ihren „Schutzpatron und lyrischen Protektor“ bezeichnete. Neben seiner Tätigkeit für den Rowohlt Verlag war Franz Hessel aber weiterhin auch als Schriftsteller tätig. Er publizierte Erzählungen, Romane und vor allem eine Vielzahl von Feuilletons.

1931 schrieb Franz Hessel die Texte zu einem Fotoband über Marlene Dietrich – und beschäftigte sich dabei auch mit deren Lächeln: „Mit diesem Lächeln hat Marlene Dietrich Europa und Amerika erobert. Es ist in einem göttlicher und gemeiner als das all ihrer Rivalinnen. Das Lächeln der Greta Garbo ist von gebrechlicher Zartheit, schmerzliches Mitleid erregt es, auch wenn die Trägerin glücklich zu sein scheint, es ist christlich, engelhaft; das Lächeln der Elisabeth Bergner ist jungfräulich einsam, das der Asta Nielsen tragisch verhängnisvoll. Marlene Dietrich kann lächeln wie ein Idol, wie die archaischen Griechengötter und dabei harmlos aussehn. Man kann ihrem Lächeln gar keinen Vorwurf machen. Es ist ‚nicht bös’ gemeint‘. Und kann doch ein ansaugendes Astarte-Lächeln sein, ein Ausdruck jener Venus vulgivaga, die – im Nebenberuf – Todesgöttin war. Es kann banal sein, grandios banal wie die Worte der Lieder, welche die fesche Lola singt. Diese Worte und ihre Melodien sind die Erfindung eines Mannes, der die Ausdrucksmöglichkeiten unserer großen Berlinerin genial erfaßt hat, Friedrich Hollaender. Den berühmt gewordenen Refrain:
‚Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt,
denn das ist meine Welt und sonst gar nichts!
Das ist – was soll ich machen? – meine Natur.
Ich kann halt lieben nur und sonst gar nichts‘
singt sie mit einer Gelassenheit, einer selbstverständlichen Nacktheit, die viel einfacher, eindeutiger und stärker ist als aller absichtliche ‚Sexappeal‘.“

1933 erschien das letzte von Franz Hessel verfasste Buch: der Band „Ermunterungen zum Genuss“, der kleine Prosaarbeiten enthielt. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland war Franz Hessel als Autor jüdischer Herkunft mit Berufsverbot belegt. Bis 1938 blieb er aber weiterhin als Übersetzer für den Rowohlt Verlag tätig und weigerte sich, trotz des Drängens von Familie und Freunden, lange Zeit, seine Heimat zu verlassen – vermutlich weil er, der sein Leben lang kaum politisches Interesse gezeigt hatte, die Gefährlichkeit der Situation unterschätzte. Erst im Herbst 1938 gelang es Helen Hessel, die nötigen Papiere zu organisieren und ihren Mann nach Paris zu bringen. Dort schrieb Franz Hessel – u.a. unter dem Pseudonym „Stefan Ulrich“, also den Vornamen seiner beiden Söhne – Feuilletons für französische Zeitungen.

1940 flüchtete Franz Hessel mit seiner Familie vor der vorrückenden deutschen Wehrmacht in das südfranzösische Sanary-sur-Mer. Gemeinsam mit seinem Sohn Ulrich wurde er für zwei Monate in dem berüchtigten Lager Les Milles bei Aix-en-Provence interniert. Kurz nach seiner Entlassung starb Franz Hessel, vermutlich an den Folgen der Lagerhaft, am 6.1.1941 in Sanary-sur-Mer.

Franz Hessel: Spazieren in Berlin. Mit einem Geleitwort von Stéphane Hessel. vbb – Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2011.

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