„Ich hatte überlegt, meinen Geburtstag mit etwas Neuem zu zelebrieren, etwas, das ich noch nie zuvor versucht hatte, nämlich mit Rizinusöl“, vermerkte Søren Kierkegaard in seinen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1852. Ob er seinen 39er tatsächlich mit einer Kostprobe des altbewährten, aber ziemlich übel schmeckenden Abführmittels begangen hat, geht aus der Notiz nicht hervor – deutlich aber wird, dass Kierkegaard durchaus eine gewisse ironische Distanz zum Feiern von Geburts- und anderen Festen hatte. Das entsprach der Lebens- und Weltsicht des dänischen Philosophen, der am 5. Mai 1813 in Kopenhagen als Sohn eines vermögenden Kaufmanns zur Welt kam.
Søren Kierkegaard war Wegbereiter der Existenzphilosophie, und wie niemand anderer vor ihm beschrieb er mit äußerster analytischer Präzision die innere Zerrissenheit des Menschen in einer zunehmend fragmentierten Welt. Mit seinen zahlreichen Schriften, darunter vor allem mit seinen Hauptwerken „Entweder – Oder“ (1843), „Der Begriff Angst“ (1844) und „Die Krankheit zum Tode“ (1849), übte er nachhaltigen Einfluss auf zahlreiche Philosophen, Theologen und Schriftsteller aus: von Martin Heidegger, Karl Jaspers und Ernst Bloch über Karl Barth und Martin Buber bis zu Theodor W. Adorno, Jorge Luis Borges, Albert Camus, Franz Kafka, Jean Paul Sartre, John Updike und vielen anderen.
Zu seinen Lebzeiten allerdings fand Søren Kierkegaard kaum Anerkennung. Vor allem in seiner Heimatstadt Kopenhagen wurde er durch seine Kritik an der dumpfen Saturiertheit der dänischen Kaufmannsgesellschaft und durch seine Attacken gegen die Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit der Vertreter der lutherischen Staatskirche zum verhassten Außenseiter. Er musste zahllose Schmähschriften über sich ergehen lassen, wurde in Karikaturen verspottet, auf der Straße beschimpft und manchmal sogar mit Steinen beworfen. „Die Leute verstehen mich so wenig, dass sie nicht einmal meine Klagen darüber verstehen, dass sie mich nicht verstehen“ – so Kierkegaard. Ganz anders war die Situation bei seinem Zeitgenossen Hans Christian Andersen. Der Philosoph und der Märchendichter sind die beiden großen Antipoden der dänischen Kultur. Deutlich wird dies nicht nur in der Rezeption ihrer Werke – sondern das war schon zu ihren Lebzeiten so.
„Seelenmarter gefühlt wegen Kierkegaards noch nicht erschienener Kritik“, notierte Hans Christian Andersen am 30. August 1838 in seinem Kalender. Als Märchendichter hatte der damals 33-jährige schon zahlreiche Erfolge feiern können. Mit Geschichten wie „Die Prinzessin auf der Erbse“, „Des Kaisers neue Kleider“ und „Die kleine Meerjungfrau“ hatte er eine begeisterte Leserschaft gefunden. Im Spätherbst des Jahres 1837 hatte Andersen seinen dritten Roman herausgebracht. Er trug den Titel „Nur ein Spielmann“ und war die Geschichte eines armen Geigers, dem wegen seiner Herkunft und seiner labilen Psyche sowohl der künstlerische Erfolg als auch die große Liebe verwehrt bleiben. Das Buch kam beim dänischen Publikum sehr gut an und wurde bereits 1838 auch ins Deutsche übersetzt.
Nun also wollte Sören Kierkegaard den Roman rezensieren. Andersen kannte den um acht Jahre jüngeren Studenten der Theologie und Philosophie bereits seit einiger Zeit. Die beiden Männer waren einander in Kopenhagener Kaffeehäusern, im Theater und in den literarischen Zirkeln der Stadt öfters begegnet, allerdings mochten sie einander nicht besonders – vermutlich, weil sie allzu unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Kierkegaard, heute berühmt als Wegbereiter der Existenzphilosophie, hatte von seinem Vater ein ansehnliches Vermögen geerbt. Er führte das Leben eines intellektuellen Dandys, der sich ohne alle materiellen Sorgen seinen Studien widmen konnte. Andersen, Sohn eines armen Schuhmachers aus der Provinzstadt Odense, war als 14-jähriger völlig mittellos nach Kopenhagen gekommen und hatte viele Bittbesuche absolviert, bis er endlich Gönner fand, die ihm eine Schulausbildung finanzierten. Gesellschaftliche Anerkennung war ihm sein Leben lang überaus wichtig – während Kierkegaard vor keinem Konflikt zurückscheute. Kierkegaard hatte den Märchendichter Bekannten gegenüber wiederholt als allzu sentimental, naiv und unmännlich bezeichnet. Andersen wiederum erzählte in seinem Märchen „Die Galoschen des Glücks“ von einem seltsamen Papagei, der philosophische Sprüche von sich gibt, die aber niemand so recht versteht. So manche Zeitgenossen meinten darin eine Karikatur Kierkegaards zu erkennen.
1838, als „Nur ein Spielmann“ erschien, hatte sich Sören Kierkegaard zwar schon als scharfzüngiger Querdenker einen Namen gemacht, allerdings hatte er noch kaum etwas veröffentlicht. Von der Rezension des Andersen-Romans erwartete man daher nichts anderes als eine der üblichen Buchbesprechungen. Merkwürdig – und für Hans Christian Andersen beunruhigend – war nur, dass sich Kierkegaard dafür mehrere Monate Zeit ließ. Endlich, am 7. September 1838, erschien der Text – und zwar nicht, wie man erwartet hatte, in einem Literaturjournal, sondern in Form eines neunzigseitigen Buches. Es war Sören Kierkegaards allererste Buchpublikation: Sie trug den Titel „Aus eines noch Lebenden Papieren“. Kierkegaard lieferte darin einen Totalverriss des Romans und heftige Attacken gegen Andersen. Was ihn so aufbrachte, war vor allem jene passive, resignative Weltsicht, die ihn auch schon in den Märchen des Dichters gestört hatte. Andersen, den Kierkegaard auch schon einmal als „Jammerlappen“ bezeichnet hatte, sei ein unreifer, naiver Mensch, ohne „Lebensanschauung“, ohne eine klare Haltung gegenüber den wahren Problemen des Lebens. Genau das aber forderte Kierkegaard von Literatur und Philosophie, und daher vermerkte er an anderer Stelle: „Andersen schreibt über die Galoschen des Glücks, ich aber schreibe davon, wo der Schuh drückt.“
17.3.2022