SABBIONETA: DIE IDEALE KULISSE

Als Bernardo Bertolucci nach einem geeigneten Drehort für seinen 1969/1970 produzierten Film „Strategia del ragno“ („Die Strategie der Spinne“) suchte, fiel die Wahl auf Sabbioneta. Die kleine Stadt in der Lombardei, rund fünfundzwanzig Kilometer nordöstlich von Parma gelegen, bot genau jenes Ambiente, das der italienische Regisseur für seinen Film brauchte: Ein Labyrinth von schmalen Gassen, scheinbar endlose Säulengänge, geheimnisvoll wirkende Gebäude und eine Stimmung, als ob die Zeit hier vor langem stehengeblieben wäre. Es war die ideale Kulisse für jene Vater-Sohn-Geschichte, die auf Jorge Luis Borgesʼ Erzählung „Thema vom Verräter und vom Helden“ basiert, von surrealen Bildwelten im Stil René Magrittes und Giorgio de Chiricos inspiriert ist, und in der die Erkenntnisse der Psychoanalyse eine ebenso große Rolle spielen wie Bertoluccis Auseinandersetzung mit Faschismus und Kommunismus.

Sabbioneta: Galleria degli Antichi (alle Fotos in diesem Beitrag: © B. Denscher)
Sabbioneta: Galleria degli Antichi (alle Fotos in diesem Beitrag: © B. Denscher)

Auch für etliche andere Film- und Fernsehproduktionen wurden in letzter Zeit in Sabbioneta Aufnahmen gemacht. So etwa 2018 für die zweite Staffel der italienisch-britischen TV-Serie „Medici“, für die in Sabbioneta etliche Szenen gedreht wurden, die das Florenz der Renaissance darstellen sollten. Denn im Gegensatz zu diesem hat sich Sabbioneta seit dem 16. Jahrhundert in seiner Struktur und seinem Erscheinungsbild nur wenig verändert.

Via Vincenzo Scamozzi
Via Vincenzo Scamozzi

Die Gründung von Sabbioneta geht auf Vespasiano Gonzaga (1531–1591) zurück. Der aus einer Seitenlinie der mantuanischen Herzogsfamilie Gonzaga stammende Adelige wollte dort, wo sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts lediglich eine Burg und kleines Dorf befanden, eine „Idealstadt“ errichten lassen. Er folgte damit einem für das Denken der Renaissance typischen Konzept. Dieses besagte, dass eine nach Prinzipien der Rationalität und Funktionalität geplante und nach rasterartigen Strukturen gestaltete Stadt die Basis für eine perfekte wirtschaftliche, soziale und politische Ordnung bilden würde. Damit griff man Ideen auf, die sich bereits in der antiken Philosophie – vor allem bei Platon – finden. Allerdings wurde kaum je versucht, dieses Konzept einer idealen Planstadt tatsächlich städtebaulich umzusetzen.

Sabbioneta ist eine der wenigen realisierten und bis heute erhaltenen Planstädte der Renaissance. Errichtet zwischen 1556 und 1591 wurde sie mit all den Gebäuden und Institutionen ausgestattet, die gemäß ihrem Gründer – der sich damit selbst als „idealer Fürst“ inszenierte – für die perfekte urbane Gemeinschaft unabdingbar waren. Neben kommunalen Verwaltungseinrichtungen, einem Spital, mehreren Kirchen und einer Synagoge waren dies unter anderem Handels- und Handwerksbetriebe, eine Münzprägestätte (die auch als Kanonengießerei diente), eine Bank und eine Druckerei. 1562 ließ Vespasiano Gonzaga auch eine Akademie eröffnen, als deren Leiter er den damals hochangesehenen Philosophen Mario Nizolio nach Sabbioneta berief. Die Akademie war allgemein – unabhängig von Stand und Alter – zugänglich, gemäß dem humanistischen Ideal von Bildung als wesentlichem Teil eines funktionierenden Sozialwesens.

Der „Palazzo Ducale“ in Sabbioneta
Der „Palazzo Ducale“ in Sabbioneta

Den Mittelpunkt der Stadt bildete der „Palazzo Ducale“, der Herzogspalast, außerhalb des repräsentativen Bereiches rund um die „Piazza Ducale“ wurden die bürgerlichen Wohnbezirke angelegt. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass die Besiedlung der Stadt eher zögerlich und teilweise unter Druck erfolgte. Dies belegen Dekrete des Herzogs, mit denen Gonzaga alle Familien der Region unter Strafandrohungen verpflichtet, nach Sabbioneta zu übersiedeln.

Das Parterre und darüber die Fürstenloge des „Teatro Olimpico“
Das Parterre und darüber die Fürstenloge des „Teatro Olimpico“

Das wohl bis heute bemerkenswerteste Gebäude in Sabbioneta ist das „Teatro Olimpico“ (auch „Teatro all’Antica“ genannt), erbaut 1588–1590 unter der Leitung des Architekten Vincenzo Scamozzi. Vorbild war das gleichnamige, 1585 eröffnete Theater in Vicenza, das auf Entwürfen von Andrea Palladio basiert und das Scamozzi nach Palladios Tod fertiggestellt hatte. Seinen besonderen Platz in der Architektur- und Theatergeschichte erhielt das „Teatro Olimpico“ von Sabbioneta aufgrund der Tatsache, dass es das erste überdachte europäische Theatergebäude ist, das von Planungsbeginn an als autonomes, permanentes Theater konzipiert und in seiner Struktur nicht an bereits bestehende Gebäude gebunden war.

Das „Teatro Olimpico“ mit der Aufschrift “Roma quanta fuit ipsa ruina docet”
Das „Teatro Olimpico“ mit der Aufschrift “Roma quanta fuit ipsa ruina docet” – „Wie groß Rom war, davon zeugen selbst die Ruinen“. Inspiriert zur Wahl dieses Motto war man vermutlich durch ein gleichnamiges Buch des italienischen Architekturtheoretikers Sebastiano Serlio (ca. 1475 – ca. 1554) gewesen. Es war ein für Humanismus und Renaissance typischer Verweis auf die als vorbildhaft empfundene Antike.

Das „Teatro Olimpico“ von Sabbioneta wurde allerdings nur kurze Zeit seinem eigentlichen Zweck entsprechend genutzt. Denn ein Jahr nach der Fertigstellung des Gebäudes starb Vespasiano Gonzaga. In der Folge gab es kaum mehr Theateraufführungen. Der Bau war während der Pestepidemie von 1629–1631 ein Lazarett, im 18. Jahrhundert wurde er als Kaserne genutzt, später als Warenlager und in den 1930er Jahren als Kino. Verloren gegangen ist in jener Zeit des allmählichen Verfalls auch der vom Architekten Vincenzo Scamozzi entworfene, eine Piazza darstellende Bühnenaufbau. Dieser konnte allerdings im Zuge der Ende des 20. Jahrhunderts begonnenen umfangreichen Renovierungsarbeiten aufgrund von Scamozzis Originalzeichnungen und -beschreibungen rekonstruiert werden.

Bühnenaufbau im „Teatro Olimpico“ von Sabbioneta
Bühnenaufbau im „Teatro Olimpico“ von Sabbioneta

Nach dem Tod von Vespasiano Gonzaga verlor Sabbioneta bald an Bedeutung. Politisch und wirtschaftlich bedeutsame Institutionen wurden in andere Städte verlagert, Betriebe aufgelassen, die finanziell besser gestellte Bürgerschaft verließ allmählich die Stadt. „Der Bau von Sabbioneta erinnert an eine Theaterinszenierung“, schrieb der deutsche Kunsthistoriker Hanno-Walter Kruft in seinem Buch „Städte in Utopia“. Eine Stadt, die aus der Konzeption eines einzelnen hervorgehe, sei auf die Dauer nicht lebensfähig, so Kruft. Sabbioneta sei somit „ein Monolog über das Wesen einer idealen Stadt durch den Herrscher, der zugleich der Hauptakteur der Szene ist: Vespasiano Gonzaga. Das Stück endet folgerichtig mit dem Tod des Herzogs, der als Person und sogar als Monument von der Szene abtritt. Die Stadt, die zurückgeblieben ist, hat Kulissencharakter.“[*]

Via Vespasiano Gonzaga


Sabbioneta wurde gemeinsam mit dem nahe gelegenen Mantua 2008 in die Liste der Weltkulturerbestätten der UNESCO aufgenommen.


[*] Kruft, Hanno-Walter: Städte in Utopia. Die Idealstadt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert zwischen Staatsutopie und Wirklichkeit. München 1989, S. 50.

2.7.2023

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