Das Schnitzel, jener Inbegriff der Wiener Küche, komme eigentlich – so wird oft erzählt – aus Italien. Es sei eigentlich eine „Costoletta alla milanese“, ein Mailänder Kotelett, und es sei erst um 1857 über Vermittlung von Feldmarschall Radetzky, damals Generalkommandant der österreichischen Armee in Lombardo-Venetien, in Wien bekannt geworden. Klingt gut – ist aber falsch. Schon in Wiener Kochbüchern aus dem frühen 19. Jahrhundert finden sich Schnitzel-Rezepte, und auch die Bezeichnung „Wiener Schnitzel“ gab es schon vor 1857. Nachzulesen ist all dies in dem Band „Die Wiener Küche“ von Ingrid Haslinger.
Der Abschnitt über das Schnitzel ist aber nur einer von vielen in dem fast 400 Seiten umfassenden Buch. Dieses, soviel gleich vorweg, beeindruckt nicht nur durch eine enorme inhaltliche Vielfalt und durch sorgfältige Recherche, sondern es ist auch gut geschrieben und überaus lesenswert. Ingrid Haslinger ist Historikerin und Kochbuchautorin, und dem entsprechend besteht ihr Buch aus zwei großen inhaltlichen Teilen: Im ersten stehen Geschichte und Spezifika der Wiener Küche im Mittelpunkt, der zweite ist ein Rezeptteil. Vom „Frühstück“ über das „Gabelfrühstück“, das „Mittagessen“ und die „Jause“ bis zum „Nachtmahl“ finden sich da zahlreiche Originalrezepte aus historischen Kochbüchern, angepasst den heute üblichen Mengenangaben und Küchenusancen. Klassiker wie Wiener Schnitzel und Rostbraten sind dabei natürlich auch vertreten – außerdem einige „verschwundene oder vergessene Gerichte“, wie etwa „Gebackener Stockfisch“, zubereitet nach einem Kochbuch aus dem Jahr 1846, „Kaffee-Schaum“, wie man ihn 1887 servierte, oder „Himbeersulz“ nach einem Rezept von 1913.
Im historischen Teil ihres Buches widmet sich Ingrid Haslinger der Entwicklung der typischen „Wiener Küche“, die ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte und deren wesentliche Charakteristik darin bestand, dass sie viele Elemente aus den Regionalküchen der österreichisch-ungarischen Monarchie in sich aufnahm. Allerdings – und das macht die Qualität dieses Buches aus – beschränkt sich Haslinger dabei durchaus nicht auf die Darstellung der kulinarischen Welt der vermeintlich guten alten Zeit, sondern sie legt auch dar, wie sich die Wiener Küche nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie, in den folgenden vielfach schlechten Zeiten, weiterentwickelt hat. Deutlich wird dabei vor allem, dass die einst große Vielfalt weitgehend verloren gegangen ist. Und so ist man bei der Lektüre immer wieder darüber erstaunt, was einst selbstverständlicher Bestandteil des Wiener Speiseplans war. So zum Beispiel Schnecken, die aus den Wiener Weingärten und dem niederösterreichischen Umland stammten. Seit dem Mittelalter waren sie in Wien eine populäre Delikatesse, für die man zahlreiche Zubereitungsarten kannte. Eine „beliebte kleine Wirtshausspeise“ waren im 19. Jahrhundert „Schneckeneier“: „Hart gekochte Eier wurden in der Mitte geteilt, der Dotter herausgenommen, die Ausnehmung mit einer gekochten Schnecke gefüllt und mit dem pikant abgerührten Dotter gefüllt. Als billige Speise waren sie weit verbreitet, sodass sich in Wien die Redensart ‚Besser a Schneck, als gar ka Speck‘ einbürgerte.“
In eigenen Kapiteln beschäftigt sich Ingrid Haslinger mit den typischen Institutionen der Wiener Küche: mit dem Wirtshaus, dem Heurigen und dem Kaffeehaus. Ein eigener Abschnitt ist dem Gulasch gewidmet, das sich von einer ungarischen Hirtenspeise zu einem der Hauptvertreter der Wiener Küche entwickelte. „Rinds- und Schweinsgulasch oder Szegediner Gulasch, in seltenen Fällen Kalbsgulasch“ sind allerdings, so Haslinger, „die wenigen Überlebenden der einst so reichen Gulaschtradition in Wien.“ Die im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren gegangene Vielfalt dokumentiert sie mit einer Liste von insgesamt 51 Gulaschvarianten – darunter zum Beispiel „Concurrenzgulasch“ („Rindsgulasch, serviert mit einer kräftigen Portion Schinkenfleckerl“); „Damengulasch“ („Saftgulasch mit Erdäpfelnudeln, bestreut mit gehackten harten Eiern und gehackter grüner Petersilie“); „Herrengulasch“ („Saftgulasch mit Leberknödeln und Mixed Pickles“) oder „Secessionsgulasch“ („Rindsgulasch, verrührt mit gekochten großen weißen Bohnen und gewürfeltem Schinken, dazu Makkaroni“).
Zum Gulasch passt natürlich auch die Semmel. Über sie und über Brot und Gebäck insgesamt, die es in Wien in vielen Varianten gab und teilweise immer noch gibt (von denen etwa Striezerl, Flesserl, Baunzerl und Schirafferl durchaus auch sprachlich ein Genuss sind) weiß Ingrid Haslinger ebenso viel Interessantes zu erzählen wie über zahlreiche weitere Bereiche der Wiener Küche. Ihr Buch ist damit eindeutig das neue Standardwerk zum Thema.
Ingrid Haslinger: Die Wiener Küche. Kulturgeschichte und Rezepte. Mandelbaum Verlag, Wien 2018.
24.8.2018