Abgelegene Täler, ungezähmte Flüsse, stille Dörfer. Von höchst persönlichen Eindrücken aus dem Tessin soll die Rede sein, angereichert mit ein paar Zitaten von Schriftstellern, die ebenfalls von dieser Landschaft bezaubert wurden.
Unser Ziel ist Berzona im Onsernone-Tal. Es ist dies eines jener Täler, die vom Lago Maggiore westwärts bis weit hinein nach Italien gehen. Eng gewundene, eigentlich verkehrsfeindliche Straßen ziehen durch diese Täler. Die Rechtskurve von der Hauptstraße hinauf nach Berzona ist nicht in einem zu bewältigen, da muss schon noch einmal zurückgestoßen werden. Steil fährt man bergauf, bis zu dem kleinen Platz vor dem fast 700 Jahre alten Campanile.
Dort kann das Auto vorerst abgestellt werden, dann geht es noch einmal 155 – in Worten: einhundertfünfundfünfzig – atemraubende, muskelversteinernde Stufen hinauf ins autofreie Oberdorf, bis man zu dem Haus kommt, das nun für ein paar Tage Heim sein wird. Und wie. Es ist 500 Jahre alt und von der Besitzerfamilie liebevoll erneuert und restauriert worden. „Turmartig konzipiert“, wegen der Hanglage, steht in der Beschreibung: Zuunterst der Keller, darüber die Küche mit dem Kamin, im ersten Stock die Schlafräume und zuoberst der Dachboden. Über die ganze Breite des Hauses ziehen sich in jedem Stockwerk die für das Tal typischen Balkone, auf denen Maiskolben und Maisstroh getrocknet wurde.
Warum Berzona? Antworten finden sich bei Max Frisch. Er, einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, lebte dort und beschrieb sein Dort-Sein sowohl in seinen Tagebüchern als auch in der Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“. „Alles in allem ein grünes Tal“, schreibt Frisch – und weiter „waldig wie zur Steinzeit“.
Und das macht einen der Reize dieser Landschaft aus: Es ist alles so still und völlig anders, steile bewaldete Hänge, auf dem Gipfel des einen oder anderen Bergs sind Almwiesen zu sehen oder mitten im Wald, am Gegenhang, eine Wiese mit einem Haus – ob es bewohnt ist, ist nicht zu erkennen.
Der Held in der Erzählung von Max Frisch muss zur Kenntnis nehmen, dass die Turmuhr zweifach schlägt „für den Fall, dass jemand nicht genau gezählt hat.“ Damals, vor 50 Jahren, als Frisch das schrieb, läutete die Glocke überhaupt nur zwei Mal täglich, jetzt, nachdem sie renoviert wurde, alle Viertelstunden. Und die volle Stunde nach wie vor zwei Mal. Es stellt sich die Frage, für wen da geläutet wird. Denn es wohnt fast niemand mehr in Berzona, hin und wieder am Wochenende hört man aus einem der Häuser Lärm, doch die Landflucht ist hier genauso groß wie im gesamten Tessin.
Es ist da also grün: es wachsen Kastanien, Palmen und Wein. Das Dorf selbst ist grauschwarz, grauschwarz wie die Granitsteine, die schwer auf den Dächern liegen, dazwischen leuchten üppig Blumen und Sträucher. Furchtbar und knapp beschreibt Max Frisch, wie es ist, wenn ein Haus brennt, das Gebälk zusammenkracht und die schweren Granitplatten des Daches „mit ihrem Gewicht die Zimmerdecke durchschlagen und den Zimmerboden auch und dann als Trümmerhaufen im Keller liegen.“
Fordernd ist auch ein erstes Kennenlernen der näheren Umgebung des Hauses. Es geht immer nur bergauf, über Granitblöcke, die mit Stahlstiften befestigt sind (unvorstellbar die Mühseligkeit des Daseins hier in alten Zeiten.) Eine Kapelle steht am oberen Rand des Dorfes, dann geht es durch den Wald zum steil abstürzenden, in Felswannen sich fangenden Bach. Im Sommer soll man dort baden können! Ein Weg, den auch der Held in der Erzählung von Max Frisch einmal geht, führt hinauf auf den Pass, dort wird es dann weit und hell.
Das nächste Ziel ist das Erkunden des Onsernone Tals in Richtung Westen, zur italienischen Grenze hin. Comologno ist ein Ort, der durch seine Palazzi beeindruckt, die man dort – so weit weg von allem – nicht vermuten würde. Auffallend ist auch die barocke Pfarrkirche mit ihrem Kreuzweg, der sich – wie könnte es an diesen steilen Hängen anders sein – über mehrere Geländeterrassen hinzieht.
Bis Spruga geht die Straße, von wo aus man zu Fuß gehen muss, wenn man zum Talschluss an der schweizerisch-italienischen Grenze will. Dort findet man ein Thermalbad, oder besser das, was man nach der Zerstörung 1951 durch eine Lawine von den „Bagni di Craveggia“ wieder rudimentär aufgebaut hat.
Ganz anders wieder ist Loco, das zur näheren Umgebung von Berzona gehört. Zwanzig Minuten durch den Wald abwärts kommt man zu dieser kleinen Siedlung, die einfach Italianità pur ist, die kleine Trattoria, bei der man eine köstliche Minestrone bekommt und Polenta, mit Gemüse, Pilzen oder Blauschimmelkäse. Reißt man sich aus dem Dolcefarniente, das einen dort umfängt, heraus, kann man das Museum des Ortes besuchen.
Berzona wird manchmal auch als „Dichterdorf“ bezeichnet. Denn zur gleichen Zeit wie Max Frisch lebten hier auch der Autor Alfred Andersch („Die landschaftliche Lage ist völlig einzigartig“, vermerkte dieser einmal) und der Schriftsteller und Historiker Golo Mann. Mann arbeitete in seinem oberhalb des Dorfes gelegenen Ferienhaus an seiner großen Wallenstein-Biografie. Und, so schrieb Mann: „Wenn ich dann vor meinem Hause stehe, das Feuer des Kamins sehe und draußen ein glorreicher Sternenhimmel, dann ist es so schön, dass ich es kaum glauben kann.“
6.8.2022. Fotos: K. Holzer