BEZAUBERNDE ZIEGEL

Ziegel sind nach wie vor das meistverwendete Baumaterial der Welt, Ziegel begleiten die menschliche Zivilisation von ihren Anfängen an. Man kann sie in einer Hand halten und sie werden aus Ton und Lehm erzeugt. Diese Naturprodukte sind in Verbindung mit Wasser plastisch formbar, behalten die gegebene Form auch nach dem Trocknen und erhärten sich im Feuer. Luftgetrocknete Ziegel gaben schon vor rund 7.000 Jahren das Baumaterial für einfache Wohnhäuser ab. Als dann der im Ofen gebackene oder gebrannte Ziegel erfunden wurde, konnte man sich an Bauwerke wagen, die eine kompliziertere Architektur verlangten.

Ziegelwand am Wiener Arsenal. Foto © B. Denscher

Im Lauf der Jahrhunderte verschwand das Wissen um das Bauen mit Ziegeln immer wieder, „verharrte mehrere Jahrhunderte in einem Wartezustand“, wie das Andrew Plumridge und Wim Meulenkamp in ihrem Standardwerk „Ziegel in der Architektur“ ausdrückten. Die „hohe Zeit des Ziegels“ begann dann mit dem 19. Jahrhundert, als eine größere Anzahl von Tonsorten gewonnen und die Farbvarianten erweitert werden konnten. Die Ziegelherstellung blieb aber noch immer saisongebunden, Ziegelbrenner aus Gegenden, in denen es eine lange Tradition der Ziegelherstellung gab, waren von April bis Oktober in ganz Europa unterwegs. So etwa heißt es im „Baukulturkompass der Fachhochschule Kärnten“, dass in „Österreich die Ziegelherstellung bis vor 200 Jahren in den Händen umherziehender italienischer Familien lag, die an Ort und Stelle Tonvorkommen suchten, Ziegel brannten und dann auch an den Bauarbeiten beteiligt waren“.

Was Wien betrifft, so war es die Regentin Maria Theresia, die Mitte des 18. Jahrhunderts den Bau eines Ziegelofens etwas außerhalb der damaligen Stadtgrenzen, am Wienerberg, veranlasste. Dort wurden um 1780 schon eine Million Ziegel pro Jahr gebrannt. Das 1819 gegründete Unternehmen „Wienerberger“ produzierte 1849 bereits 30 Millionen Mauerziegel, und 1865 war das Unternehmen mit 10.000 Arbeitern die größte Ziegelei der Welt. Um die Jahrhundertwende hatte es einen Jahresausstoß von 225 Millionen Mauerziegeln.

The Brick, das neue Hauptquartier der Wienerberger Ziegelindustrie GmbH. Foto © Charlotte Schwarz

Diese einleitenden Sätze dienen als Vorspiel, um zum eigentlichen Gegenstand zu kommen, zu den Backsteinhäusern und den Sichtziegelbauten in Wien. „Bezaubernde Ziegel“ heißt das Buch aus dem Falter-Verlag, in dem Viola Rosa Semper „handverlesene Bauobjekte vorstellt, denen eines gemeinsam ist: eine unverputzte Fassade, die den Blick auf nackte Ziegel erlaubt.“ Charlotte Schwarz hat dazu die Fotos geliefert. und wer ihre Bilder in dem Band „Geheime Pfade“ kennt, in denen sie die „Durchhäuser, Hinterhöfe und versteckten Gassln in Wien“ abgebildet hat, weiß, wie sie ihre Fotos dramatisch zu inszenieren vermag.

Gleich im Vorwort hält Viola Rosa Semper fest, dass die ersten Ziegelbauten im römischen Legionslager Vindobona standen. Das Wissen ums Ziegelbrennen ging dann zwischenzeitlich in Vergessenheit, ab dem 11. Jahrhundert aber gab es wieder Ziegelbauten in Wien. Sichtziegelbauten setzten sich erst in der Gründerzeit durch, als der deutsche Architekt Ludwig Förster und später sein Schwiegersohn Theophil Hansen in Wien arbeiteten. Zu ihnen stießen dann der Prager Architekt Hermann Bergmann und, als erster Wiener, Heinrich Ferstel. Diese Sichtziegelbauten fallen in Wien auf, sie sind untypisch für das hiesige Bauen. Umso wichtiger und auch überraschender ist es, auf die einschlägigen Bauwerke aufmerksam gemacht, zu ihnen hingeführt zu werden, weil sich eine ganz andere, vielleicht sogar un-wienerische Stimmung breitmacht. Man bekommt das Gefühl, im Norden Deutschlands oder irgendwo in England zu sein.

Der Haupteingang zum Wiener Arsenal, in dem sich das Heeresgeschichtliche Museum befindet. Foto © Charlotte Schwarz

Viola Rosa Semper berichtet in ihrem Buch über „Wiens Sichtziegel-Grätzel“, „Die Hochburg des Backsteins“, „Unterwegs am Backsteinboulevard“, „Sakrale Backsteinbauten und letzte Ruhestätten“, „Ziegel für die Öffentlichkeit“, „Kinder hinter Sichtziegelfassaden“ und „Vereine, Kunst- und Eventfabriken“. Innerhalb der Kapitel ist das jeweilige Bauwerk in der schon erwähnten höchst persönlichen Art von Charlotte Schwarz abgebildet, dann beschreibt die Autorin das Objekt: die Baugeschichte, die verschiedenen Verwendungszwecke im Laufe der Zeit, wie es in unseren Tage genützt wird. Es sind das über 80 Bauwerke, die vorgestellt werden, vom „Arsenal“ über Fabriken, Friedhöfe und Kirchen, Wohn-, Zweck- und doch auch Prunkbauten. Bei jedem dieser Bauwerke sind Adresse und Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln angegeben.

Das Hauptgebäude des Hernalser Friedhofs im 17. Wiener Gemeindebezirk. Foto © Charlotte Schwarz

Es ist aber nicht nur vom Prunk die Rede, sondern auch von der Ausbeutung, von den sogenannten „Ziegelböhm“, die Ende des 19. Jahrhunderts zu Tausenden aus Böhmen, Mähren und der Slowakei nach Wien kamen und hier unter unmenschlichen Bedingungen in den Ziegelwerken Arbeit fanden. Der spätere Gründer der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Viktor Adler, brachte das in seinen Zeitungsartikeln an die Öffentlichkeit, ein Streik 1895 war Ausgangspunkt zur allmählichen Verbesserung der Bedingungen.

Mit dem Blick in den Himmel, der von der Kuffner-Sternwarte aus möglich ist, endet das Buch.

Die Kuffner-Sternwarte. Foto © Charlotte Schwarz

Viola Rosa Semper (Text), Charlotte Schwarz (Fotos): Bezaubernde Ziegel. Backsteinhäuser und Sichtziegelbauten in Wien. Falter Verlag, Wien 2022.

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