„DÜRER WAR FAST IMMER EINE ONE-MAN-SHOW“

Albrecht Dürer: Selbstporträt (1498, Ausschnitt). Alle Abbildungen von Dürer-Werken: Wikimedia Commons.
Albrecht Dürer: Selbstporträt (1498, Ausschnitt). Alle Abbildungen von Dürer-Werken: Wikimedia Commons.

Er gilt als einer der bedeutendsten Maler und Grafiker der europäischen Kunstgeschichte, er war ein exzellenter Geschäftsmann und er sorgte mit seinem dandyhaften öffentlichen Auftreten immer wieder auch für Gesprächsstoff – der 1471 in Nürnberg geborene Albrecht Dürer. Was diesen Ausnahmekünstler ausmachte, darüber hat Konrad Holzer ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker und Dürer-Experten Christof Metzger geführt. Dieser ist Chefkurator der Wiener Albertina, die über die weltweit bedeutendste Sammlung von Dürer-Grafiken verfügt.

Holzer: Wie kommt es, dass die Albertina eine so große Rolle im Zusammenhang mit Dürer spielt?

Metzger: Von den etwa 1.000 erhaltenen Zeichnungen Albrecht Dürers besitzt die Albertina seit 1796 mit zirka 130 Blättern ein gutes Achtel und damit die größte und auch qualitätvollste Dürersammlung weltweit. Es ist auch keine über Jahrhunderte gewachsene Sammlung, sondern ein seit Dürers Tod mehr oder weniger geschlossen gebliebener Komplex aus seinem Nachlass: Unsere Sammlung kann also eine lückenlose Provenienzkette bis in Dürers Werkstatt vorweisen. Dürers Erben verkauften den kostbaren Bestand an den berühmten Nürnberger Sammler Willibald Imhoff (1519–1580) und an Kardinal Antoine Perrenot de Granvelle (1517–1586); beide Kollektionen kamen 1588/89 in kaiserlichen Besitz, womit der wichtigste Teil von Dürers Nachlass wieder in einer Hand vereinigt war. Im Tausch gegen druckgrafische Blätter kamen die Zeichnungen dann 1796 in das Eigentum Herzog Alberts von Sachsen-Teschen (1738–1822), des Gründers unserer Sammlung. – Seither ist die Albertina nicht nur der wichtigste Sammelort des Werks Albrechts Dürers, sondern auch maßgeblich an seiner Erforschung beteiligt.

Albrecht Dürer: Selbstbildnis als Dreizehnjähriger (1484)
Albrecht Dürer: Selbstbildnis als Dreizehnjähriger (1484)

Holzer: Was Dürers Persönlichkeit betrifft ist vieles erklärungsbedürftig. Er hat Schreiben, Lesen, Rechnen und etwas Latein gelernt, war also nicht übermäßig gebildet. Woher kommt sein Selbstbewusstsein? Das Selbstbildnis als 13-Jähriger, das Selbstbildnis in Christus-Pose? Und immerhin verkehrte er mit Kurfürsten und Kaisern, hatte auch die Power, die ihm zustehende Bezahlung einzufordern.

Metzger: Dürers Bildungsstand muss für jemanden aus der „Handwerkskaste“ doch recht hoch gewesen sein, was nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken ist, dass bereits sein Vater, Albrecht Dürer d. Ä., mit besten Nürnberger Kreisen vernetzt war. Aus seiner Familienchronik wissen wir, dass Dürer in Michael Wolgemuts Nürnberger Malerwerkstatt, wo er seine Ausbildung absolvierte, einiges von den anderen Gesellen zu ertragen hatte – vielleicht aus Neid oder aufgrund allzu überheblichen Auftretens. Seine Selbstbildnisse sprechen Bände: Kaum eines, das nicht mit jeglicher Konvention bricht (als Kind, als Nackter, erlösergleich usw.). Man darf natürlich nicht vergessen, dass das alles für den privaten Bereich geschaffen war. Doch wissen wir aus zeitgenössischen Quellen, wie sehr Dürer mit seinem dandyhaften öffentlichen Auftreten für Gesprächsstoff sorgte: etwa durch seinen gepflegten Spitzbart – Vollbärte waren damals alten Männern vorbehalten, das änderte sich erst unter Karl V., der ja selbst Bartträger war. Aus den Briefen, die er 1506 aus Venedig schrieb, wissen wir von aufsehenerregenden Gewändern, wie er sie in Nürnberg aufgrund der strengen Standesregeln und den damit verbundenen Kleidungsverordnungen kaum hätte vorführen können. Die ihm eigene Distanzlosigkeit und der ihm überall vorauseilende künstlerische Ruhm haben Kontakte bis in allerhöchste Kreise sicherlich begünstigt. Als Dürer 1520/21 die Niederlande bereiste, wurde er wie höchste Prominenz gefeiert, und es muss geradezu schick gewesen sein, mit und von ihm gesehen zu werden. Selbst Erasmus von Rotterdam und der König von Dänemark ließen sich das nicht nehmen. Und beim Einfordern von ihm Zustehendem: da hatte er keinerlei Hemmungen, das konnte er sich sozusagen leisten.

Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1500)
Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock (1500)

Holzer: War er ein Marketing-Genie? Hatte er doch einen eigenen Angestellten, der dafür sorgen sollte, dass sein Werk unter die Leute kommt.

Metzger: Auf jeden Fall. Seit der zweiten Hälfte der 1490er Jahre produzierte und vertrieb Dürer höchstwertige druckgrafische Erzeugnisse. ER kontrollierte die Produktion und die Qualität, EHEFRAU und MUTTER sorgten für den Vertrieb: im hauseigenen Geschäft, auf dem örtlichen Markt, während Jahrmärkten und sogar auf der Frankfurter Messe. Seit 1497 beschäftigte er auch professionelle Handlungsreisende, um druckgrafische Blätter in Kommission zu nehmen und sie international zu vertreiben. Von einem wissen wir, dass er bis Rom gekommen war. So wurde Dürers druckgrafisches Werk in kurzer Zeit in ganz Europa bekannt und begehrt. Ein Marketingclou war sicherlich um 1495 die Einführung des bekannten Monogramms, das Autorenschaft, Herkunft und Qualität des Produkts garantierte.

Albrecht Dürer: Feldhase (1502)
Albrecht Dürer: Feldhase (1502)

Holzer: Zum Werk, zu Hervorstechendem: Was macht die Faszination des Dürer-Hasen aus?

Metzger: Der Feldhase fasziniert die Menschen schon seit dem 16. Jahrhundert … eine der wenigen Dürerzeichnungen, die immer berühmt war! Da ist zum einen die unglaubliche Meisterschaft in der Wiedergabe des lebendigen Tieres: man meint ja, jedes Härchen des Fells ertasten zu können. Ein sanfter Lichtschein unterstreicht durch seinen zarten Schimmer sein Weichheit. Dann blitzt als besonderes Detail im Auge des Tieres der Reflex des Fensters in der Werkstatt des Malers auf. Als ob man selbst im Jahr 1502 dabei wäre. Die Maltechnik ist bei genauerer Betrachtung verblüffend: Mit breitem Pinsel und wässriger Farbe werden Grundtöne angelegt, dann mit der Pinselspitze das Haarkleid, aber durchaus nicht Haar für Haar, sondern sorgsam platziert nur pars pro toto. Der naturalistische Effekt, den Dürer dadurch erzielt, ist allerdings überwältigend. Da fällt überhaupt nicht weiter auf, dass der Hase tatsächlich im Nichts sitzt. Es scheint, als wollte Dürer hier die Wahrnehmung des Betrachters foppen, und lässt man sich auf sein Spiel ein, dann wird das Tier zum Trompe-l’Œil, das sich auf dem in der Werkstatt liegenden Papier vor unseren Augen wie lebend materialisiert.

Albrecht Dürer: Melencolia I (1514)
Albrecht Dürer: Melencolia I (1514)

Holzer: In der Albertina befindet sich auch ein Exemplar von Dürers Kupferstich „Melencolia I“. Diese „Melancholie“ –  ist das die Depression, die wir heutzutage so gut kennen? Was sehen Sie darin?

Metzger: „Melencolia I“ wird traditionell gemeinsam mit „Ritter, Tod und Teufel“ und „Der heilige Hieronymus im Gehäus“ zu den 1513/14 entstandenen sogenannten Meisterstichen gezählt. Das bringt vor allem zu Ausdruck, dass man darin den Höhepunkt in Dürers grafischem Schaffen sieht. Trotz der Einheitlichkeit in Technik und Format ist bislang aber jeder Versuch gescheitert, die den Blättern möglicherweise zugrunde liegende ikonografische Einheit zu entschlüsseln. Zumindest den „Hieronymus“ und die „Melancholie“ betrachtete Dürer offenbar als Gegenstücke, sah aber in der Dreiergruppe keinesfalls ein Triptychon. Tatsächlich ist das mit „Melencolia I“ betitelte Blatt das größte Rätsel. Wichtige Motive sind die auf dem Boden liegenden Werkzeuge, wie sie Dürer in seiner Werkstatt selbst verwendete, sowie Sanduhr und Glöcklein, die an alles Vergängliche gemahnen. Das magische Quadrat verrät den Urgrund aller Düsterheit: Dessen Ziffernfolgen ergeben waagerecht, senkrecht wie diagonal die Summe 34, wobei die ersten drei Felder der oberen Reihe auf den Sterbetag von Dürers Mutter Barbara Holper bezogen werden können, nämlich „16 / 3 + 2 [= 5 oder Mai]“, und sich mittig in der unteren Reihe das Todesjahr „15 / 14“ findet. So wurde das Blatt als Gedenkblatt auf den Tod der Mutter gelesen, doch sollte nicht übersehen werden, dass nach humanistischer Auffassung die Melancholie ein Ausweis von Genialität und höchstem Schöpfertum war. Dürer übertrug diese Einschätzung des melancholischen Temperaments auf sich, sein Schaffen und überhaupt jede kreativ-künstlerische Arbeit. So darf die sitzende Gestalt als ein inneres Selbstbildnis des Künstlers gesehen werden, keinesfalls aber als medizinische Diagnose.

Albrecht Dürer: Innsbruck von Norden (um 1495)

Holzer: Ein Aquarell Dürers zeigt Innsbruck von Norden. Das ist ja wieder eine ganz andere Seite seines Schaffens.

Metzger: Naja, Landschaftsstudien sowie Stadt- und Architekturbilder setzen vor allem in Dürers Frühwerk einen Schwerpunkt. Mit der ersten Italienreise spiegeln sie dann mehr und mehr unmittelbare Naturerlebnisse wider. Allesamt sind sie eine Mischung aus Aquarell- und Deckfarbenmalerei. Die Blätter aus Innsbruck dokumentieren die Stadt am Ausgang des Mittelalters. Auf der etwa postkartengroßen Gesamtansicht reicht der Blick von der Hofburg (links) bis zu der Stelle, wo die der Stadt ihren Namen gebende Innbrücke den Fluss passierbar macht. Der Ort, von dem aus der Künstler über den Inn blickte, ist sehr präzise zu bestimmen und liegt im Bereich des heutigen Waltherparks, gegenüber dem Haus Pfarrplatz 3. Die festgehaltene Grundstruktur des Orts entspricht also tatsächlich den örtlichen Gegebenheiten. Allerdings dehnt Dürer die spiegelnde Wasserfläche des Inns zu enormer Distanz zwischen den Ufern und zieht die Stadtansicht nach der Art spätgotischer Veduten etwas zusammen, sodass die Silhouette der turmbewehrten Stadt um einiges pittoresker wirkt als das tatsächliche mittelalterliche Panorama. Dürer bildet also das Gesehene nicht einfach mit der Präzision einer Kameralinse ab, sondern interpretiert es, verarbeitet es zu einem ebenso künstlichen, wie künstlerischen Produkt. Daher reicht ihm für den Hintergrund EIN schneebedeckter Berg, der aber unmissverständlich die Situierung der Stadt in den Alpen anschaulich macht. Damit erweist sich Dürer auch als Meister der Reduktion und Abstraktion.

Albrecht Dürer: Ansicht vom Dorf Kalchreuth (um 1495-1500)

Holzer: Wenn man die in Buchform herausgegebenen Holzschnittfolgen betrachtet, die Dürer selbst als die „Drei großen Bücher“ bezeichnete, so kann man sich nicht vorstellen, dass er das alles allein geschaffen hat. Wie kann man zur Zeit Dürers den Werkstattbegriff verstehen, wie war da die Arbeitsaufteilung?

Metzger: Dürer war fast immer eine One-Man-Show, da sein Anspruch ja allerhöchste Qualität aus Meisterhand, also seiner eigenen war. Mitarbeiter kamen dann ins Spiel, wenn die Auftragslage seine Kapazitäten überforderte, etwa für zwei illustrierte Erbauungsbücher, für die Dürer um 1503 Hans Baldung Grien und Hans Schäufelin als Gehilfen engagierte. Dürer selbst, der bei diesen Publikationen nicht als Verleger auftrat, hat selbst nichts dazu beigetragen, es findet sich auch nirgends sein Name oder Monogramm. Nach der zweiten venezianischen Reise kamen mehrere Malaufträge ins Haus, auf die Dürer mit den Engagements seines Bruders Hans und Hans Süß von Kulmbachs reagierte. Der jeweilige Anteil Dürers und der Gehilfen wurde aber, soweit wir das heute noch nachvollziehen können, vertraglich präzise festgelegt.

Holzer: Copyright war ja zur Zeit Dürers ein Fremdwort. Dennoch schreibt er in die „Großen Bücher“ hinein: „Wehe Dir Du hinterhältiger Räuber fremder Arbeit….“ – und das scheint genützt zu haben.

Metzger: So ganz stimmt das mit dem fehlenden Copyright nicht, entsprechende Klauseln, die z. B. vor Raubdrucken schützen sollten, gab es durchaus. Man hatte damals nur eine andere Auffassung von Original, Kopie und Fälschung. Heute regen wir uns zu Recht über das fernöstliche Plagiat einer italienischen Designerteekanne auf, damals wäre die Anlehnung an Bewährtes sogar ein Qualitätskriterium gewesen. Problematisch wurde es für Dürer erst – und dann machte er auch ordentlich Rabatz –, wenn sein Logo AD darauf zu sehen war. Dagegen ging er mit der ganzen Härte des Gesetzes bzw. der ihm zugestandenen Privilegien vor.

Holzer: In heutigen Zeiten, wo für Kunst Unsummen – auch als Geldanlage – bezahlt werden, stellt sich die Frage: Was sind die Werke Dürers heutzutage wert? Sind überhaupt Werke von ihm auf dem Markt?

Metzger: Gemälde: NEIN; Zeichnungen: Sehr, sehr SELTEN (in den letzten Jahrzehnten nur eine Handvoll ernstzunehmender, aber auch nicht wirklich herausragender Blätter); Druckgrafik: OFT … druckgrafische Blätter von herausragender Perfektion erzielen häufig auch respektable Preise, die bis gegen 1.000.000 Euro gehen können. Würde ein etwa bisher nicht bekanntes, gezeichnetes Blatt vom Kaliber des Dürerhasen auf dem Markt auftauchen: Da wäre nach oben alles offen, bis in den dreistelligen Millionenbereich.

Albrecht Dürer: Das große Rasenstück (1503)
Albrecht Dürer: Das große Rasenstück (1503)

2019 hat Christof Metzger im Prestel Verlag den Band „Albrecht Dürer“ herausgegeben, der auch das Begleitbuch zur großen Dürer-Ausstellung der Wiener Albertina war. Knapp 500 prächtige Seiten umfasst dieses Buch. Und man wird sich der Bilderflut vorerst einmal gerne hingeben, bevor man die Texte studiert. Es ist unglaublich, was dieser Ausnahme-Künstler in seinem relativ kurzen Leben (1471–1528) alles geschaffen hat.
Nur, Schauen allein genügt nicht, die Texte geben notwendigen Hintergrund. Julia Zaunbauer, ebenfalls Kuratorin an der Albertina, eröffnet mit der Biografie und skizziert diese sehr übersichtlich von Dürers Geburt bis zu seinem Vermächtnis. Christof Metzger eröffnet sein Kapitel über „Dürer, der Zeichner“ mit der Frage „Was kriecht denn da?“, um so seine Betrachtung über „Das große Rasenstück“ zu beginnen. Er zitiert Zeitgenossen und den Meister selbst – diese Original-Zitate haben einen ganz eigenartigen Reiz –, schreibt über das Lob der Linie und schließt mit dem Fazit, dass Dürers Zeichnungen „an die Grenzen des mit Pinsel und Feder Machbaren“ führten. Ein weiterer Beitrag – wieder von Christof Metzger – befasst sich mit dem Nachlass des Malers und damit, dass seine „Papierlin und Pergamentlein“ fast wie ein Heiligtum verwahrt wurden. „Hasenjagd“ betitelt Metzger jenen Abschnitt, der erzählt, wie Rudolf II. zu Dürers Werken kam. Nürnberg, Madrid, Prag, London und schließlich die Albertina in Wien sind Stationen einer bewegten Geschichte.
Dann folgt der Bildteil: dieser beginnt mit dem Selbstakt und den frühen Werken und führt über Themen wie „Das Ideal der Antike“ oder „Der Meister der Linie“ bis zu den Reisebildern und den späten Meisterwerken. Den Abschluss bildet eine Werkliste, in der über jedes Werk alle nur erdenklichen Details – Technik, Maße, Bezeichnung, Provenienz und Literatur – angeführt sind. Der Anhang enthält ein Verzeichnis der Dürerʼschen Werke aus dem Kunstbuch des Willibald Imhoff aus dem Jahr 1588 und noch zahlreiche weitere Daten und Fakten. Mit einem Wort: Was man von Dürer sehen will, was man über Dürer wissen will, ist in diesem Band versammelt.

Christof Metzger (Hg.): Albrecht Dürer. Prestel Verlag, München 2019.
Website der Wiener Albertina.

23.4.2021

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