KUNSTSCHNEE ANNO SCHNEE

Motiv aus einem Plakat für ein Sportartikelgeschäft, Entwurf von Franz Griessler, 1928
Motiv aus einem Plakat für ein Sportartikelgeschäft, Entwurf von Franz Griessler, 1928

Es war eine recht gruselige Mischung, die da als Basis fürs Wintersportvergnügen diente: Waschsoda vermengt mit Sägespänen und Wasser, darüber pulverisierter Glimmer und eine Sprühlösung aus Soda und Seife. Doch nicht nur die Mixtur sorgte für Aufsehen („alle skitechnischen Möglichkeiten wie auf einer natürlichen Schneefläche“[1]), sondern auch der Ort des Geschehens. Es war die Alte Autohalle auf dem Messegelände am Kaiserdamm in Berlin. Im Frühjahr 1927 wurde sie für acht Wochen, vom 16. April bis zum 12. Juni, in einen „Schneepalast“ verwandelt – und damit in die weltweit erste große Indoor-Skianlage.

Auf einer Fläche von rund 3.000 Quadratmetern gab es eine Skisprungschanze, zwei Rodelbahnen und eine Skipiste. „Am Tage wird hier Gelegenheit zu wintersportlicher Betätigung gegeben, während abends durch Musik, Schneeballett und Sportvorführungen für Unterhaltung gesorgt wird“, vermerkte dazu die Zeitung „Vorwärts“.[2] Für die Gestaltung des „Schneepalastes“, in dem es auch ein Restaurant mit Sicht auf den Skihügel gab, hatte das Messeamt einen renommierten Künstler, nämlich den Maler und Ausstattungsleiter des Preußischen Staatstheaters Emil Pirchan engagiert.

Illustrierte Technik für jedermann, Heft 27, 6.7.1927, S. 432
Illustrierte Technik für jedermann, Heft 27, 6.7.1927, S. 432

Auf den Eisen- und Holzgerüsten, die das Skelett des Skihügels bildeten, wurden Kokos- und Bürstenmatten angebracht, die als Unterlage für die rund zehn Zentimeter hohe Kunstschnee-Decke dienten. Erfunden hatte den Schnee-Ersatz, der weder kalt war noch schmelzen konnte, der britische Autor und Amateur-Chemiker Laurence Clarke Ayscough. Ob es wirklich seine Tochter gewesen war, die ihn dazu veranlasst hatte, weil sie nicht nur „im Winter und in den Alpen, wo es ohne Schwierigkeit angeht, sondern justament im Sommer und zu Hause Ski laufen“[3] wollte, sei dahingestellt. Auf jeden Fall meldete Ayscough im November 1926 die Soda-Mixtur zum Patent an.[4] Und schon kurz darauf nahm sich „ein großes Londoner Warenhaus“ – es war „Harrods“ – „der Erfindung an und errichtete eine Uebungsbahn“[5]. Diese war zwar recht kurz, reichte aber aus, um eine neuerworbene Wintersportausrüstung gleich im Kaufhaus testen zu können.

Das Londoner Journal „The Sketch” brachte einen Bildbericht über das Indoor-Skivergnügen, bei dem die englische Schriftstellerin June Boland und der Schweizer Skilehrer Emil (Miggi) Meyer kurze Lektionen auf Kunstschnee erteilten. (The Sketch, 24.11.1926. Foto © Illustrated London News/Mary Evans Picture Library)
Das Londoner Journal „The Sketch” brachte einen Bildbericht über das Indoor-Skivergnügen, bei dem die englische Schriftstellerin June Boland und der Schweizer Skilehrer Emil (Miggi) Meyer kurze Lektionen auf Kunstschnee erteilten. (The Sketch, 24.11.1926. Foto © Illustrated London News/Mary Evans Picture Library)

Der um ein Vielfaches größere „Schneepalast“ in Berlin war eine der Hauptattraktionen der Ausstellung „Das Wochenende“. Es war dies eine Messe mit Angeboten und Informationen aus den Bereichen Sport und Freizeit – so etwa präsentierten sich zahlreiche deutsche Regionen als Tourismusziele und im großflächigen Ausstellungspark waren „55 Wochenendhäuser aller Größen und Systeme (…) in natura aufgebaut“[6]. Insgesamt verzeichnete die Ausstellung – als die bis dahin größte derartige Veranstaltung in Berlin[7] – eine halbe Million Besucher:innen.

Ein Besucher, der sich ganz besonders für die Konstruktion und den Betrieb des „Schneepalastes“ interessierte, war Dagfin Carlsen. Carlsen, ein Norweger, der in den 1920er Jahren in Österreich lebte, war damals ein bekannter Skisportler. Er hatte zahlreiche Skisprungbewerbe gewonnen und dabei auch etliche Rekorde aufgestellt. Außerdem hatte er 1921/22 im zweiten Teil des legendären Skifilms „Das Wunder des Schneeschuhs“ („Eine Fuchsjagd auf Skiern durchs Engadin“) von Arnold Fanck als Darsteller mitgewirkt. Carlsen war aber nicht nur Spitzensportler, sondern auch ein gelernter Kaufmann: Mitte der 1920er Jahre war er Leiter der Wintersportabteilung des Wiener Sportgeschäfts „Mühlhauser“[8], dann Partner des ebenfalls in Wien angesiedelten Sporthauses „Carlsen-Lehrner“[9], er hatte ein eigenes „Carlsen-Skiwachs“ herausgebracht[10] und bewarb eine Reihe von Produkten – von Sportbekleidung[11] bis zu Bananen[12] – mit seinem Namen (was allerdings zu einigen Diskussionen über seinen Amateurstatus bei Wettbewerben führte[13]).

Nachdem er die Berliner Ausstellung besucht und Kontakt mit dem Kunstschnee-Erfinder Laurence Clarke Ayscough aufgenommen hatte, ging Carlsen daran, auch in Wien einen „Schneepalast“ zu eröffnen, der im Gegensatz zum Berliner als Dauereinrichtung geplant war. Den geeigneten Standort dafür fand er in der Ankunftshalle des 1924 stillgelegten Nordwestbahnhofes[14].

Der Tag, 16.10.1927, S. 6
Der Tag, 16.10.1927, S. 6

Für die Realisierung seines Projektes benötigte Carlsen rund 700.000 Schilling[15] (was einer heutigen Kaufkraft von zirka 2,7 Millionen Euro entspricht[16]). Er fand dafür einige Finanziers, von denen vor allem zwei den „Schneepalast“ auch für entsprechende Eigenwerbung nutzten, nämlich das Wiener Warenhaus Stafa und die steirische Puntigamer Brauerei.

Die zum „Schneepalast“ adaptierte Nordwestbahnhalle. Foto. Wilhelm Willinger (Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung)
Die zum „Schneepalast“ adaptierte Nordwestbahnhalle. Foto. Wilhelm Willinger (Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Grafiksammlung)

Der Wiener „Schneepalast“ war in seiner Gestaltung und in den räumlichen Dimensionen (auch er hatte eine Fläche von rund 3.000 Quadratmetern) dem Berliner Vorbild sehr ähnlich. Die Eröffnung fand am 26. November 1927 statt: „Gestern nachmittags war die gesamte Wiener Gesellschaft, Funktionäre aller Vereine und die Spitzen der Behörden, Bundesminister Resch, Bürgermeister Seitz, Nationalrat Deutsch, (…) Vertreter der amerikanischen, englischen, deutschen, norwegischen und schwedischen Gesandtschaft, (…) Vertreter des Bundespräsidenten, Vertreter des Bundeskanzleramtes und viele andere prominente Persönlichkeiten, zur Eröffnung des Schneepalastes versammelt.
Der einstige Nordwestbahnhof bot ein prächtiges Bild. Durch ein hellerleuchtetes Portal, mit Teppichen ausgelegt, durch ein geräumiges Büfett, gelangte man in den riesenhaften Raum (…). Aber auch die sportlichen Darbietungen der prominentesten Skiläufer, – Damen und Herren zeigten ihre Kunst –, waren sehenswert. Reden wurden gehalten, festliche Ansprachen, in denen man von der Erstarkung der Jugend, von Freude, Frieden und Sport sprach. Die Rede des Bürgermeisters, der die Eröffnung des Palastes vornahm, wurde mit großem Jubel aufgenommen und seine herzlichen Worte fanden begeistertes Echo in dem ‚Skiheil‘ der Jungen“, schrieb die Zeitung „Der Tag“, um dann mit einem Bericht über jenes Ereignis fortzusetzen, das die Nachrichten dominierte: „Kein Mensch hätte geahnt, daß wenige Viertelstunden später eine Waffe gegen den Festredner gerichtet sein werde.“[17]

Denn als der Bürgermeister in seinem Wagen den Nordwestbahnhof verlassen wollte, wurde mehrmals auf ihn geschossen. Der Attentäter, Mitglied der rechtsradikalen Frontkämpfervereinigung, konnte umgehend festgenommen werden und Karl Seitz blieb unverletzt. Doch aufgrund des Attentats waren die Berichte über die Eröffnung des Schneepalastes selbst weit weniger ausführlich, als es sich Dagfin Carlsen vermutlich erhofft hatte. Dennoch war das Interesse für die neue Sportstätte zunächst sehr groß, und so berichtete etwa die „Kleine Volks-Zeitung“ am 28. November 1927 von einem „Massenbesuch im Schneepalast“: „Schon vom frühen Morgen an sah man viele hunderte mit Skiern ausgerüstete Wiener zur Nordwestbahn ziehen. Die Halle mußte wegen des Riesenandranges mehrmals von der Polizei gesperrt werden.“[18]

Das interessante Blatt, 1.12.1927, S. 5 (ÖNB/Anno)
Das interessante Blatt, 1.12.1927, S. 5

Geöffnet war der Wiener „Schneepalast“ von 10 Uhr vormittags bis 10 Uhr abends, die Benützungsgebühr betrug 1,50 Schilling für jeweils zwei Stunden. Der Skihang und die Rodelbahnen waren allen offen, während die Sprungschanzen Sportlern mit Wettkampf-Erfahrung vorbehalten blieben. Rodeln und Skier konnten im Schneepalast ausgeliehen werden, es gab regelmäßig Skikurse und auch zahlreiche andere Veranstaltungen – von Skirennen und Sprungwettkämpfen bis zu Erste-Hilfe-Kursen und Kinderfesten.

Karikatur von Franz Plachy auf der Titelseite des „Kleinen Blattes“, 2.12.1927
Karikatur von Franz Plachy auf der Titelseite des „Kleinen Blattes“, 2.12.1927

Der Schnee im „Schneepalast“ wirke zwar wie „richtig gehender Firnschnee, in dem man alles machen kann, Christiania, Telemark und Schneepflüge. Aber sein Aussehen betrübt uns.“[19]  Was den Reporter der Tageszeitung „Die Stunde“ betrübte, war, dass der Kunstschnee nicht schneeweiß, sondern gelb war. Auch in einem Artikel in der Zeitung „Freiheit“ – betitelt „Der Speisesodapalast in der Dresdnerstraße“ – war der gelbe Schnee „mit einem Stich ins graue“ ein Thema. Vor allem aber, so wurde kritisiert, sei der Kunstschnee „sehr grob und körnig und bremst viel zu stark den Fahrer. Der Läufer bleibt deshalb beim Kehren im Soda hängen und stürzt“, was sehr unangenehme Folgen haben konnte: „Wenn es der Unternehmer auch in Abrede stellt, so juckt das Soda doch ganz beträchtlich auf der Haut, und wer das Unglück hatte, sich die Haut aufzustoßen, wird das Brennen sogar sehr schmerzhaft empfinden.“ Ein „wirklicher Vorteil des Schneepalastes“ aber sei es, so hieß es in der „Freiheit“, „daß er bei vielen Großstädtern die Liebe zum weißen Sport wecken wird.“[20] Allerdings würden sie diesen dann nicht länger im Nordwestbahnhof, sondern auf einem der Berge in der Nähe von Wien ausüben.

Tatsächlich nahm das Interesse am Hallenskilauf bald merklich ab – und der Wiener „Schneepalast“, der als die erste permanente Skihalle der Welt beworben wurde[22], hatte eine nicht viel längere Lebenszeit als sein temporäres Berliner Gegenstück. Nur rund dreieinhalb Monate nach der Eröffnung, am 10. März 1928, wurde aufgrund der Bilanzverluste ein Ausgleichsverfahren eingeleitet. Dagfin Carlsen „hoffte trotzdem noch auf eine Sanierung, doch alle Verhandlungen scheiterten“[23], sodass der „Schneepalast“ in der Folge demontiert und das Holz des Gerüstbaus verkauft wurde: „Aus dem Erlös des Holzverkaufes hofft man einen Teil der enormen Schulden – sie sollen 30.000 Schilling übersteigen – bezahlen zu können. Hauptgläubiger ist die Gemeinde Wien, die viele Tausende Schilling an Abgaben zu fordern hat.“[24]

Eine kurze Erinnerung an den „Schneepalast“ findet sich in der „Arbeiter-Zeitung“ vom 2. November 1932. In dem von Max Löwinger verfassten Beitrag über den Nordwestbahnhof – betitelt „Der tote Bahnhof“ – heißt es lakonisch: „Ein Haufen Mist erinnert noch an den verkrachten Schneepalast, der sich hier etabliert hatte.“[25]

[1] Berliner Börsen-Zeitung, 1.4.1927, Abendausgabe, S. 3.
[2] Vorwärts. Berliner Volksblatt, 17.4.1927, Beilage 1, Seite 1.
[3] Arbeiter-Zeitung, 26.11.1927, S. 6.
[4] Link zum Text des Patentansuchens
[5] Neues Wiener Journal, 17.3.1927, S. 13.
[6] s. Deutsche Allgemeine Zeitung, 11.4.1927, Abendausgabe, S. 6.
[7] s. Berliner Tageblatt und Handelszeitung, 4.7.1927, Abendausgabe, S. 6.
[8] s. Die Bühne, 1925, Heft 8, S. 48
[9] s. u.a. Sport-Tagblatt, 4.5.1926, S. 7
[10] s. Sport-Tagblatt, 8.8.1925, S. 8
[11] s. Allgemeine Sport-Zeitung, 22.12.1923, S. 1.
[12] s. Sport-Tagblatt, 8.8.1925, S. 8.
[13] Ebenda.
[14] Der 1872 eröffnete Nordwestbahnhof im 20. Wiener Gemeindebezirk war der zweitgrößte der sechs Wiener Kopfbahnhöfe. Da nach dem Ende der Österreichisch-ungarischen Monarchie der vom Nordwestbahnhof abgewickelte Personenzugsverkehr stark abnahm, wurde der Bahnhof 1924 stillgelegt. Das Gebäude wurde in der Folge wiederholt für Veranstaltungen genutzt und 1952, aufgrund schwerer Kriegsbeschädigungen, abgetragen.
[15] s. Petra Mayrhofer u. Agnes Meisinger: Wintersport in Österreichs ‚alpiner Peripherie‘ am Beispiel des ‚Schneepalasts‘ in der Wiener Nordwestbahnhalle. In: Marschik, Matthias u.a.: Images des Sports in Österreich. V&R unipress, Göttingen 2018, S. 147ff.
[16] vgl. Historischer Währungsrechner der Österreichischen Nationalbank
[17] Der Tag, 27.11.1927, S. 2.
[18] Kleine Volks-Zeitung, 28.11.1927, S. 3.
[19] Die Stunde, 29.11.1927, S. 5.
[20] Freiheit, 30.11.1927, S. 3.
[21] Ebenda.
[22] s. u.a. Österreichische Illustrierte Zeitung, 4.12.1927, S. 3.
[23] Neuigkeits-Welt-Blatt, 16.10.1928, S. 4.
[24] Ebenda.
[25] Arbeiter-Zeitung, 2.11.1932, S. 7.

10.2.2022

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