Als „verdorben, unmoralisch und sittenlos“ bezeichneten manche Kritiker ihre Dichtungen, andere wieder, bedeutende Autoren wie etwa Theodor Storm, waren von ihrem Talent fasziniert und achteten sie als die begabte Lyrikerin. Dann gab es solche, die von den Gedichten dieser Frau zu irritiert waren, um eine eindeutige Stellungnahme abzugeben. So etwa der sonst so kritische Feuilletonist Ferdinand Kürnberger: „Ich habe nicht den Mut“, meinte er, „zu entscheiden, ob das ein Talent oder – ein Unglück ersten Ranges ist.“
Bei dem „Talent“ oder dem „Unglück ersten Ranges“ handelte es sich um Ada Christen (1839–1901), eine Frau, die es in dem von Männern beherrschten Literaturbetrieb wagte, mit ihren sehr eigenständigen und schonungslos offenen Texten aufzutreten und die sich obendrein wenig um die von der Literaturkritik festgesetzten Formalismen kümmerte. Sie dachte auch nicht daran, wie manche ihrer anderen schreibenden Geschlechtsgenossinnen, ihre Individualität aufzugeben und „wie ein Mann zu schreiben“, um von der Kritik ernst genommen zu werden. Einer ihrer feinsinnigsten Kritiker, der Wiener Publizist Karl von Thaler, bescheinigte der Dichterin bereits nach Erscheinen ihres ersten Gedichtbandes „wirkliches poetisches Talent, das ihr angeboren und nicht, wie so vielen dichtenden Männern, durch Bildung und Reflexion angeflogen ist“ (Neue Freie Presse, 13.2.1869).
Mit ihrem richtigen Namen hieß sie Christiane Friederik und wurde am 6. März 1839 in der Vorstadt Lichtental (heute ein Teil des 9. Wiener Gemeindebezirks) geboren. Ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann, der wegen seines politischen Engagements bei der Revolution 1848 eingekerkert wurde und kurz nach der Entlassung aus jahrelanger Haft verstarb. Die Familie war inzwischen verarmt und musste in ein Substandard-Mietshaus übersiedeln, das Ada Christen später als „Haus zur blauen Gans“ zum Schauplatz sozialkritischer Erzählungen machte. Als 15-jährige schloss sich Christiane einer Wanderbühne an, mit der sie einige Jahre durch die österreichisch-ungarische Provinz tingelte. 1864 heiratete sie im ungarischen Szentgotthárd den Beamten Siegmund von Neupauer, mit dem sie sich in Wien niederließ, der jedoch nach nur zweijähriger Ehe starb. Als Schauspielerin erhielt Christiane in Wien kein Engagement, und so musste sie, so wie zuvor ihre Mutter, ihren Lebensunterhalt als Heimarbeiterin verdienen. In jener Zeit ließ sich die junge Frau auch auf das großstädtische Leben ein, sie wurde – wie sie in einem ihrer Lieder bekannte – „in Bacchus Namen getauft und der Frau Venus geweiht“, sie „liebte schnell und lebte schnell“, wie es an einer anderen Stelle heißt. Die Betroffenheit über ihre materielle Not und ihr „verfehltes Leben“ versuchte sie literarisch aufzuarbeiten und dabei gelangen ihr Gedichte von besonderer Intensität – Texte, die eigentlich schon naturalistisch waren, noch lange bevor sich der Naturalismus als künstlerische Strömung durchsetzen konnte. Der Schriftsteller Ferdinand von Saar, den sie von ihrer Theaterzeit her kannte, redigierte ihre Arbeiten und konnte den Hamburger Verlag Hoffmann & Campe zu einer Herausgabe der Gedichte bewegen. Der 1868 erschienene Band trug den Titel „Lieder einer Verlorenen“, die Verfasserin zeichnete mit dem Pseudonym Ada Christen.
Das Buch, von dem bereits nach wenigen Monaten eine zweite Auflage erschien, wurde zu einer enormen literarischen Sensation, vor allem – wie es in der „Deutsch-österreichischen Literaturgeschichte“ von Nagl-Zeidler-Castle heißt –, weil es „in Inhalt und Form dem bisherigen Frauenideal ins Gesicht schlug“. Gedichtzeilen, wie „Ich sehne mich nach wilden Küssen, / Nach wolllustheißen Fieberschauern“, gehörten wohl zum Äußersten, was eine Frau im 19. Jahrhundert öffentlich noch sagen konnte, aber eigentlich nicht mehr hätte sagen dürfen. Der Dichter Anastasius Grün etwa meinte über das in „unerfreulicher Weise interessante“ Werk: „Es ist Geist und Talent in diesem traurigsten Spiegelbilde unserer sittlichen Zustände – ein verirrter Lichtstrahl, der ein unheimliches Dunkel erst recht sichtbar macht.“ Theodor Storm hingegen nahm einige der Gedichte in seine 1870 erschienene Anthologie „Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius“ auf. In einem Brief an Ada Christen schrieb er: „Ich kenne Sie nicht, ich weiß nicht, haben Sie Ihre ‚Lieder einer Verlorenen‘ mit Ihrem Herzblut oder nur mit dem Blute Ihrer Phantasie geschrieben; ich denke indes, mit dem echten roten. Aber dies kleine Buch läßt mich nicht los; ich muß es immer wieder in die Hand nehmen, diese Lieder einer – nicht Verlorenen.“ Mit Theodor Storm verband Ada Christen in der Folge eine intensive Brieffreundschaft, der Schriftsteller wurde zu ihrem Vertrauten in allen literarischen Angelegenheiten.
In der Folge veröffentlichte Ada Christen zwei weitere Gedichtbände, denen jedoch nicht ein derart großer Erfolg beschieden war wie den „Liedern einer Verlorenen“. Um von ihrer literarischen Tätigkeit leben zu können, wandte sie sich der Prosa zu und begann Fortsetzungsromane zu schreiben, für die in den damals zahlreichen Journalen große Nachfrage bestand. Ihr erstes Werk in diesem Genre war der Roman „Ella“, der zwischen 1. Januar und 6. Februar 1869 in der „Österreichisch-ungarischen Wehr-Zeitung ‚Der Kamerad‘“ erschien.
Die „Lieder einer Verlorenen“ und dieser erste Roman zeigen bereits die charakteristischen Merkmale der Literatur von Ada Christen. Zum Teil sind die Texte geprägt von einer starken Ausdruckskraft und – wie ihre Bewunderer meinten – einer „wilden Genialität“, dann aber wieder gleiten sie stark ins Konventionelle ab. Christen war sich selbst gegenüber so ehrlich, dass sie gewisse Mängel an ihren Arbeiten zugab. In dem Gedicht „Mein Lied“ (im 1870 erschienenen Band „Aus der Asche“) findet sich schonungslose Selbstkritik: „Einschneidend ist mein Lied und peinlich (…) So derb-unkünstlich, geistig-kleinlich, / So tief gefühlt und – seicht gemacht.“
1871 brachte Ada Christen ihr erstes Stück heraus: Es war das Drama „Faustina“, das allerdings wegen moralischer Bedenken nie aufgeführt wurde. Zwar war es vom Deutschen Theater in Prag angenommen worden und man hatte auch bereits einen Premierentermin fixiert, doch dann wurde gemeldet: „Das Stück hat auf den Proben so gefährliche Momente gezeigt, daß eine Aufführung nicht gewagt wird.“ (Neue Freie Presse, 2. März 1872)
1873 heiratete Ada Christen den Rittmeister a.D. Adalmar Breden, der als Teilhaber verschiedener Firmen wirtschaftlich erfolgreich war. Die beiden führten ein großes Haus, das der Mittelpunkt eines Kreises von KünstlerInnen und SchriftstellerInnen war, zu dem unter anderen Ludwig Anzengruber gehörte. 1885 war Ada Christen Gründungsmitglied des „Vereins der Schriftstellerinnen und Künstlerinnen Wien“, der einer der ersten Vereine der Frauenbewegung in Österreich war. Die freimütigen Bekenntnisse in ihrem ersten Gedichtband empfand Ada Christen allerdings mittlerweile als so peinlich, dass sie, unterstützt von ihrem Ehemann, alle noch im Handel erhältlichen Exemplare der „Lieder einer Verlorenen“ aufzukaufen. Soziale Themen bestimmten jedoch auch weiterhin ihre schriftstellerische Tätigkeit. 1892 veröffentlichte sie die Wiener Vorstadtgeschichte „Jungfer Mutter“, die eines ihrer populärsten Werke wurde. Als eine der ersten Schriftstellerinnen in der österreichischen Literatur nahm sie sich darin des Schicksals des städtischen Proletariats an: die Heimarbeiterin, die Handschuhnäherin, die Probiermamsell, der Laternenanzünder, der Straßenaufseher, die Blumenbinderin und auch eine Prostituierte sind darin die handelnden Personen. Auch in anderen Texten widmete sich Christen in solidarischer Weise den Diskriminierten der damaligen Gesellschaft, wie etwa den Juden und den Roma (wie Irving Massey in seiner Studie „Philo-semitism in nineteenth-century German literature“ darlegte).
Zu einem kompletten Misserfolg wurde die Dramatisierung von Christens Erzählung „Jungfer Mutter“, die am 1. Februar 1894 im „Deutschen Volkstheater“ unter dem Titel „Wiener Leut‘“ uraufgeführt wurde. „Man hat gestern viel und stark gezischt im Deutschen Volkstheater“, berichtete das „Neue Wiener Journal“ am Tag nach der Premiere – und meinte: „Frau Ada Christen soll es sich mit ihren lyrischen Lorbeeren begnügen. Sie kann Verse machen, gute Novellen schreiben, aber sie bleibe dem Drama fern.“ Die Enttäuschung darüber war so groß, dass Ada Christen von da an nichts mehr publizierte. Hinzu kamen eine Herzkrankheit und ein Nervenleiden, die ihr schwer zu schaffen machten. Zeitweise war sie gelähmt, schließlich erblindete sie.
Am 19. Mai 1901 starb Ada Christen. Nachdem die Autorin für lange Zeit vergessen zu sein schien, wurde sie in den letzten beiden Jahrzehnten als eine Wegbereiterin der feministischen Literatur wiederentdeckt. Ihr Werk wurde in vielfältiger Form wieder herausgegeben und ist teilweise auch im Internet verfügbar. Es erschienen Diplomarbeiten über sie und auch von der englischsprachigen Literaturwissenschaft wurde sie entsprechend rezipiert.
Literatur:
Hauser, Andrea: Spannungsfeld Tradition – Emanzipation – Sensation. Frauenbilder, Geschlechterverhältnisse und Sexualität bei Ada Christen, Wien 2001.
Massey, Irving: Philo-semitism in nineteenth-century German literature, Tübingen, 2000.
Roe, Ian F.: ‚Die Dichterin im Bordell‘: The Poetry of Ada Christen, in: Beniston, Judith (Hrsg.): The Austrian lyric, Leeds 2004, S. 44ff.
Seel, Doris: Ich kann die Menschen nicht besser machen als sie sind: Ada Christen – eine unterschätzte Vertreterin des österreichischen Spätrealismus, Graz 2001.
9.2.2019