EIN MÄRCHEN MIT EXISTENTIELLER BOTSCHAFT

Ausschnitt aus dem Buchcover von „Die Regentrude“, © Judith Schalansky/Insel Verlag.
Ausschnitt aus dem Buchcover von „Die Regentrude“, © Judith Schalansky/Insel Verlag

„Einen so heißen Sommer, wie nun vor hundert Jahren, hat es seitdem nicht wieder gegeben. Kein Grün fast war zu sehen; zahmes und wildes Getier lag verschmachtet auf den Feldern.“ So beginnt das Märchen „Die Regentrude“ von Theodor Storm, das erstmals am 30. Juli 1864 in der Leipziger Illustrierten Zeitung erschien. Zwar war damals noch keine Rede vom Klimawandel, doch die Problematik des Verhältnisses Mensch – Natur ist ein zentrales Thema in Storms Text.

„Die Regentrude“ wurde vielfach neu aufgelegt, zu Hörspielen umgearbeitet und auch mehrmals verfilmt. In aktueller Gestaltung ist das Märchen nun in der Insel-Bücherei erschienen. Judith Schalansky hat für die Illustrationen gesorgt und auch das Nachwort verfasst. Darin schreibt sie – all das bedenkend, was sich an Klimakatastrophen in unseren Tagen ereignet –, dass man Storms „Regentrude“ als „eine Flaschenpost aus der Vergangenheit mit einer existentiellen Botschaft“ lesen könne.

„Die Regentrude“ ist ein sogenanntes „Kunstmärchen“, eine literarische Form, die – im Gegensatz zum „Volksmärchen“– von einem namentlich bekannten Autor oder einer Autorin geschaffen wurde. Berühmt sind unter anderem die Kunstmärchen von Hans Christian Andersen (z.B. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“), E.T.A. Hoffmann (z.B. „Der Sandmann“) und Wilhelm Hauff (z.B. „Zwerg Nase“). Aber Kunstmärchen entstanden nicht nur zur Zeit der Romantik, also im 19. Jahrhundert, sondern man kann auch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry als Kunstmärchen lesen.

Doppelseitige Illustration aus „Die Regentrude“, gestaltet von Judith Schalansky, © Judith Schalansky/Insel Verlag.
Doppelseitige Illustration aus „Die Regentrude“, gestaltet von Judith Schalansky, © Judith Schalansky/Insel Verlag.

Wie auch immer, irgendwann in meiner Kinderzeit bekam ich „Storms Märchen“ geschenkt, in einer kindgerecht illustrierten Ausgabe. Und dieses Buch liegt noch immer vor mir, vergilbt und abgegriffen. Die naturalistischen Zeichnungen können natürlich nicht mit dem verglichen werden, was Judith Schalansky nun in dem von ihr gestalteten Buch an Hitze- und Wasser-Visionen hervorzaubert.

Zur Geschichte: Der Feuermann hat das Land fest im Griff, es hat schon lange Zeit nicht mehr geregnet. Ein junges Mädchen und der Mann, den sie heiraten möchte – der Vater ist natürlich dagegen – machen sich auf den Weg, um die Regentrude zu finden. Der Feuermann – Storm hat sich da vom Rumpelstilzchen inspirieren lassen – verrät, ohne dies zu wollen, den beiden nicht nur den Weg, sondern auch den Zauberspruch, mit dem die schlafende Trude geweckt werden kann.

Das Happy End soll hier nicht erzählt werden, wohl aber sei darauf hingewiesen, wie der Dichter einerseits die Dürre wortgewaltig beschreibt, andererseits die Segnungen des Wassers adäquat in Worte fasst. Auf alles andere, das beim ersten Lesen – und auch aus der kindlichen Erinnerung her – nicht gleich aufgefallen ist, macht Judith Schalansky dann in ihrem ausführlichen Nachwort aufmerksam. Vom aufkommenden Kapitalismus schreibt sie und von den Quellen, aus denen Theodor Storm beim Schreiben seines Märchens geschöpft hat.

In Erinnerung geblieben – und jetzt beim Wiederlesen bestätigt – ist mir die Schönheit der Regentrude und dieser ganz eigenartige Abschied von dem Mädchen: „‚Und nun leb wohl!‘, rief sie und legte ihren Arm um den Nacken des Mädchens und küsste sie. ‚O, wie süß frisch schmeckt doch solch ein Menschenmund!‘“ Eine Szene, die in einem Volksmärchen so wahrscheinlich nicht hätte stattfinden können.

Buchcover

Theodor Storm: Die Regentrude. Gestaltet, illustriert und mit einem Nachwort von Judith Schalansky. Insel Bücherei, Berlin 2021.

16.9.2021

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