HÖLDERLIN – HÖRENSWERT

Kaum ein anderer Klassiker der deutschsprachigen Literatur hat im 20. Jahrhundert eine derart intensive musikalische Rezeption erfahren wie Friedrich Hölderlin. Zahlreiche KomponistInnen – von Benjamin Britten, Josef Matthias Hauer, Hanns Eisler, Paul Hindemith und Viktor Ullmann bis zu Hans Werner Henze, Heinz Holliger, György Kurtág, Luigi Nono, Aribert Reimann, Wolfgang Rihm und Kaija Saariaho – schufen Vertonungen von Hölderlin-Texten. Vor allem sind es die Gebrochenheit, die Melancholie und die fragmentierte Weltsicht im Werk des 1770 in Lauffen am Neckar geborenen und 1843 in Tübingen verstorbenen Dichters, die bis heute in vielfältiger Weise zu musikalischer Umsetzung inspirieren.

Friedrich Hölderlin war aber auch ein zeitkritischer Autor, mit klarer Haltung gegen Absolutismus und Feudalismus, begeistert von der Französischen Revolution, beeinflusst von der Philosophie Jean-Jacques Rousseaus. Vor allem diesem Aspekt hat sich das deutsche Ensemble „Die Grenzgänger“ bei seiner Auseinandersetzung mit dem Werk des Dichters gewidmet. Das Album „Hölderlin“, herausgekommen im März 2020 (anlässlich des 200. Geburtstags des Schriftstellers), ist ein bemerkenswerter und durchaus origineller Beitrag zur Hölderlin-Rezeption. Denn musikalisch sind die „Grenzgänger“, gemäß Selbstbeschreibung, „im Grenzbereich zwischen Folkmusik, Rock- und Bluesband und Kabarett angesiedelt“. Und das klingt dann zum Beispiel bei der furiosen „Deutschenschelte“ aus Hölderlins Roman „Hyperion“ so:

„So kam ich unter die Deutschen“ (Ausschnitt), Die Grenzgänger/Gesang Michael Zachcial.
„Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ich es, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt?
So kam ich unter die Deutschen …
Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da schwärmt es nicht mehr, und wenn es feiert und wenn es liebt und wenn es betet und selbst, wenn des Frühlings holdes Fest, wenn die Versöhnungszeit der Welt die Sorgen alle löst, und Unschuld zaubert in ein schuldig Herz, wenn von der Sonne warmem Strahl berauscht, der Sklave seine Ketten froh vergisst und die Menschenfeinde friedlich, wie die Kinder, sind, kümmert sich der Deutsche nicht ums Wetter!
So kam ich unter die Deutschen …“

„Die Grenzgänger“, gegründet und geleitet vom Liedermacher, Musiker und Autor Michael Zachcial, haben bisher insgesamt elf Alben herausgebracht. Dabei geht es um Themen aus der deutschen Geschichte, um Geschichte von unten, um Lebenswelten und Schicksale sozial benachteiligter Schichten. So etwa im ersten, 1995 erschienenen Album, „Die Schiffe nach Amerika“, das Lieder deutscher Amerika-Auswanderer aus dem 19. Jahrhundert enthält und für das „Die Grenzgänger“ den „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ bekamen. Diese Auszeichnung erhielten sie auch für einige weitere Produktionen, so etwa für die CD „Maikäfer Flieg!“ (2014), die Lieder aus dem 1. Weltkrieg bringt, oder für „Brot & Rosen“ (2017) mit Liebesliedern aus sechs Jahrhunderten. Eine Hommage an den sozial-revolutionären Dichter Georg Herwegh ist die 2017 erschienene CD „Lieder Eines Lebendigen“. 2018 brachten „Die Grenzgänger“ „Die wilden Lieder des jungen Karl Marx“ heraus, sowie – als Erinnerung an die deutsche Revolution vom November 1918 – das Album „Revolution“ mit Texten unter anderem von Bert Brecht, Ferdinand Freiligrath, Erich Mühsam und Ernst Toller.

„Die Grenzgänger“: Frederic Drobnjak, Michael Zachcial, Felix Kroll, Annette Rettich (Foto: Helena Wuttke)
„Die Grenzgänger“ (von links nach rechts): Frederic Drobnjak, Michael Zachcial, Felix Kroll, Annette Rettich (Foto: Helena Wuttke)

Üblicherweise treten „Die Grenzgänger“ als Quartett auf, für die CD „Hölderlin“ aber wurde die Band um Schlagzeug und Bass, Saxofon, E-Gitarren, Geige, Mandoline und Mundharmonika erweitert. Weit gespannt ist der stilistische Bogen, der von Blues, Rock und Pop bis zu Reggae und Walzer reicht und Anklänge an die „Dreigroschenoper“, an Hanns Eisler und Tom Waits erkennen lässt. Unter den insgesamt 14 Nummern finden sich „Hölderlin-Standards“, wie etwa „Hälfte des Lebens“ oder „Hyperions Schicksalslied“, das einst auch schon von Johannes Brahms vertont wurde (Brahms war einer der wenigen Komponisten des 19. Jahrhunderts, die sich mit Hölderlin beschäftigten).

Wie aktuell da vieles auch heute noch ist, beweisen Texte wie etwa die Elegie „Der Wanderer“, die wie ein düsterer Kommentar zur Klimadiskussion wirkt, oder das Gedicht „Die Ehrsucht“, das einer der frühen, sehr politischen Texte Hölderlins ist. Der 18-jährige wandte sich darin gegen „kleine Wüteriche“, die „um wie Könige zu prahlen“ „ihr armes Land schänden“ – und die Schlusszeile „Nahe steht der Narr am Bösewicht“ taugt wohl auch als Charakterisierung so mancher aktuell Regierender.

Auch Hölderlins „Protestgedicht“ gegen seinen Mentor Friedrich Schiller fand bei den „Grenzgängern“ eine musikalische Umsetzung, wobei die beiden überlieferten Versionen des Textes „An die klugen Ratgeber“ und „Der Jüngling an die klugen Ratgeber“ in gekürzter Form zu einer zusammengefasst wurden.

„An die klugen Ratgeber“ (Ausschnitt), Die Grenzgänger/Gesang Michael Zachcial.
„Oh lasst die Lust, das Große zu verderben, / Und geht und sprecht von eurem Glücke nicht! / Pflanzt keinen Zedernbaum in eure Scherben! / Nehmt keinen Geist in eure Söldnerspflicht! / Das Irrhaus wählt ihr euch zum Tribunale, / Dem soll der Herrliche sich unterziehn, / Den Gott in uns, den macht ihr zum Skandale, / Und setzt den Wurm zum König über ihn.“

Den „Grenzgängern“ gelingt es, durch ihre Interpretation den Texten Hölderlins die Aura des Schwierigen und Sperrigen zu nehmen, sie holen sie ins Aktuelle und zeigen auf, dass dieser Dichter auch heute noch durchaus lesenswert ist – und in Form der Grenzgänger-CD absolut hörenswert!

Die Grenzgänger: Hölderlin. CD, Müller-Lüdenscheidt-Verlag, Bremen 2020.
Website der „Grenzgänger“.

Michael Zachcial wird für die Genehmigung zur Verwendung von Musikbeispielen aus der CD „Hölderlin“ für diesen Beitrag gedankt.

7.6.2020

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