Unter den vielen Treppenanlagen Wiens ist die Strudlhofstiege wohl eine der ruhigsten. Das war schon von Beginn an so. Bei der Eröffnung am 29. November 1910 lag Wien unter einer Matsch- und Schneedecke, wie man auf einer Tafel in dem an die Stiege angrenzenden Hotel Palais Strudlhof lesen kann (in diesem Palais Strudlhof verfasste übrigens 1914 sein damaliger Besitzer, der Außenminister der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Leopold Graf von Berchtold, das dem Ersten Weltkrieg vorausgehende Ultimatum an Serbien). Erst ein Jahr nach der Eröffnung der Treppenanlage erschien in der „Wiener Zeitung“ ein längerer Artikel über „dieses Kleinod der Baukunst“, das nach einem Entwurf von Theodor Jaeger errichtet worden war. Dieser Theodor Jaeger war „kein Architekt, sondern Bauingenieur, der für das Wiener Stadtbauamt die bereits 1906 im Gemeinderat beschlossene Treppenanlage 1910 endlich realisierte“ – wie Klaus Nüchtern für sein Buch „Kontinent Doderer. Eine Durchquerung“ recherchiert hat.
Heimito von Doderer also und sein 1951 erschienener Roman „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“. Klaus Nüchtern stellt zu Beginn des Kapitels, in dem es um die Strudlhofstiege geht, gleich einmal die Frage, warum diese Stiege „möglicherweise doch auch außerhalb des gleichnamigen Romans existiert.“ Natürlich existiert sie, und für mich, der ich dort, im Alsergrund, aufgewachsen bin – diese Gegend also zu meiner „biographischen Stadtstruktur“ (Zitat Friedrich Achleitner) – gehörte, war sie Bestandteil meines „Ich bin ein Kind der Stadt-Gefühls“. Doderer und Franz Schubert, der der Volksschule in der Grünentorgasse den Namen gab, waren, sind und werden diejenigen bleiben, zu denen ich – zum einen auf dem Gebiet der Literatur, zum anderen in der Musik – einen ganz eigenen Zugang nicht nur intellektuell, sondern auch emotionell habe (Doderer hat sich übrigens ausführlich mit Schuberts Diktum, dass es eigentlich keine fröhliche Musik geben könne, auseinandergesetzt). Wenn ich mich nicht irre, dann war es 1957, also mit 17, als ich „Die Strudlhofstiege“ – abwechselnd mit meiner Mutter – zum ersten Mal gelesen habe. Man las damals Doderer in meiner Verwandtschaft. Weil die sich vielleicht zu den Gesellschaftskreisen, in denen Doderer seinen Roman spielen lässt, hingezogen fühlte. Meine Mutter nicht. Die hielt es mit den liebenswert-einfachen Frauencharakteren, die der Meister auch vorkommen ließ.
Zurück zum Bauwerk. Klaus Nüchtern hat alle einschlägigen Stellen aus dem Roman, die sich mit der Stiege befassen, zusammengetragen, und es ist ein Hineinfallen in einen Stadtlandschafts-Raum, so wie ihn nur Doderer beschreiben konnte. Nüchtern zitiert auch Friedrich Achleitner, der einmal gesagt hat: „Orte kann man nicht beschreiben, sie werden durch das Schreiben geschaffen!“ Wobei sich da gleich die Frage stellt, was Achleitner eigentlich in seinem Werk „Österreichische Architektur im 20.Jahrhundert“ über die Stiege geschrieben hat: „Strudelhofstiege, sic! Architektonische Qualität und literarische Aura sind nicht notwendig aufeinander bezogene Faktoren eines vom Genius loci geprägten Bauwerks. Das bedeutet aber auch, daß sich Architektur nicht unbedingt in alles hineinmischen muß. Doderer hatte dafür einen unbestechlichen Blick.“ Achleitner ist nach Durchsicht aller Stellen im Roman – so Klaus Nüchtern – auch zu der überraschenden Einsicht gelangt, dass es „in den ganzen neunhundertneun Seiten keine einzige zusammenhängende Beschreibung der Anlage gibt.“
Und jetzt wieder zurück zu Doderer und zu dem, was er über den Architekten Theodor Jaeger geschrieben hat: „Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor…“.
Beim Wiederbegehen der Anlage taucht dieses ganz eigenartige Gefühl auf, dass es sie wirklich gibt, dass sie auch im realen Diesseits existiert, wenn auch von den Wienern nach wie relativ wenig begangen. Weil es ohnehin unmöglich ist, den Inhalt des Romans nachzuerzählen, hier nur so viel: Als „Eine Bühne des Lebens“ stellt sich einer der Helden diese Stiege vor und gedenkt sie – immerhin mit sechzehn Jahren – auch so zu nutzen. Doderer nutzt diese Stiege als Bühne, manchmal nur beiläufig, dann aber vier Seiten lang als Schauplatz für einen Skandal, der noch viele Jahre nachwirken sollte.
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann bezeichnet Doderers Buch einerseits als realistischen Roman, andrerseits als dessen Gegenteil: „Immer herrscht hier Sommer, stets schönes Wetter. Dieser Umstand ermöglicht hunderte Natur- und Stadtschilderungen von einer Vollkommenheit, der sich in der deutschen Literatur fast nichts vergleichen läßt.“ Und wahrscheinlich ist noch kein schönerer Wien-Roman geschrieben worden.
Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre. Mit einem topographischen Anhang von Stefan Winterstein und einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Verlag C.H.Beck, MĂĽnchen.
Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer. Eine Durchquerung. Verlag C.H.Beck, München. Auch als E-Book erhältlich.
Friedrich Achleitner: Ă–sterreichische Architektur im 20. Jahrhundert. Residenz Verlag, Salzburg.
19.8.2016. Alle Fotos: K. Holzer