STEFAN ZWEIG: „DIE HANDSCHRIFT VERRÄT DEN MENSCHEN“

Isaac Weissenbruch (1826–1912): Schreibende Hand (Rijksmuseum Amsterdam)
Isaac Weissenbruch (1826–1912): Schreibende Hand (Rijksmuseum Amsterdam)

Der Schriftsteller Stefan Zweig war ein passionierter Sammler von Autographen. Er besaß eine mehrere Tausend Stück umfassende Kollektion von Originalhandschriften (vor allem von Komponisten und Schriftstellern), die er jedoch, als er im Februar 1934 wegen zunehmender politischer Repressionen aus Österreich nach England emigrierte, zum Großteil verkaufen musste. Wiederholt legte Zweig seine Überlegungen zur Bedeutung von Handschriften in Aufsätzen und Vorträgen dar. So auch im November 1934 im Rahmen der „Sunday Times Book Exhibition“ im Londoner Grosvenor House, wo er eine Rede mit dem Titel „Sinn und Schönheit der Autographen“ hielt. Hier einige Absätze daraus:

„Wenn ich versuche, zu Ihnen über die Schönheit und den Sinn der Autographen zu sprechen, so ist die Ursache, daß weder der Sinn noch die Schönheit dieser geheimnisvollen Kostbarkeiten klar zutage liegt. Bei anderen künstlerischen Gegenständen ist der Sinn gleichsam offen aufgeschlagen, die Schönheit kommt dem Blick unbeschworen entgegen. Ein Bild, von einem Meister gemalt, wir müssen nur herantreten und seine Formen, seine Farben beglücken das Auge; eine Vase, eine kunstvoll getriebene Bronze, ein in Farben leuchtender Teppich, sie haben ihr tiefstes Wesen schon vollkommen erschöpft, indem sie die Harmonie ihrer Schönheit uns entgegenhalten, bei Gläsern, bei Münzen, bei Gemmen genügt es, sie optisch anzuschauen, um schon entzückt zu sein. Man versteht diese Köstlichkeiten und man liebt sie, beinahe ohne zu denken, denn leicht und bezaubernd umfangen sie unsere Sinne.

Eine Sammlung von Autographen dagegen bietet dem Auge zunächst soviel wie nichts. Denn was ist ihr Anblick anderes als ein gehäufter Wust verstaubter, halb zerfallener, beschmutzter Papierblätter, ein raschelndes Durcheinander von Briefen, Akten und Dokumenten? Etwas scheinbar so Wertloses, daß man sich denken könnte, blieben sie zufällig liegen, eine eilige Hand würde sie wegwerfen als etwas Lästiges oder Unnotwendiges. Tatsächlich hat diese äußere Unscheinbarkeit der Autographen im Laufe der Jahrzehnte unzählbare Blätter höchsten Wertes sinnloser Vernichtung anheimgeführt. Die Manuskripte Shakespeares, seine Briefe, seine Aufzeichnungen, höchste und unbekannte Werte der Musik, neun Zehntel der ganzen klassischen Literatur, viele Dramen von Sophokles und Euripides und die Strophen der Sappho, alle sind nur vernichtet worden, weil der Sinn und die Schönheit solcher heiliger Blätter nicht offen vor den Blicken lag. […]

Marie von Ebner-Eschenbach: Mitteilung an Natalie von Milde (Wienbibliothek im Rathaus)
Marie von Ebner-Eschenbach (18301916): Mitteilung an Natalie von Milde (Wienbibliothek im Rathaus)

So wie der Jäger aus flüchtigster Fußspur den Weg des Wildes erkennen kann, so vermögen wir manchmal dank der Autographen, da sie Lebensspuren, Schaffensspuren sind, den Prozeß der Gestaltung zu verfolgen, und darum haben sie neben dem Wert der Pietät eine so ungeheure Bedeutung für unsere Erkenntniswelt. Sie sehen hier zum Beispiel ein Blatt aus einem Taschenbuche Beethovens und erblicken damit einen seiner promethidischen Augenblicke. Die eigentliche Inspiration Beethovens geschah fast niemals am Schreibtisch, sondern immer im Gehen, in der Bewegung. Unzählige Male sahen die verwunderten Bauern in der Umgebung Wiens einen kleinen, kurzatmigen Mann ohne Hut durch die Felder stampfen, sie hielten ihn für einen Narren, einen ‚Trottel‘, wie sie sagten, weil er wie geistesabwesend vor sich hin brummte, summte, schrie, sang und mit den Händen wirbelte und taktierte. Plötzlich aber hielt er inne, zog aus der Seitentasche ein kleines, meist schmutziges Buch und schrieb mit raschem Riß und grobem Zimmermannsblei ein paar Noten hinein. Mit diesen hastigen Zeilen war gewissermaßen der Ureinfall kristallisiert, blitzhaft und heiß, wie er war, und wir erleben auf einem solchen Blatt das Wunder, daß, wie durch eine Röntgenphotographie das sonst unsichtbare Skelett des Menschen, hier durch die Magie des Autographs der sonst unsichtbare Augenblick der Inspiration plötzlich sichtbar wird. […]

Ludwig van Beethoven: „Ars longa, vita brevis“, Kanon WoO 193 (The Morgan Library & Museum, Music Manuscripts Online)
Ludwig van Beethoven (17701827): „Ars longa, vita brevis“, Kanon WoO 193 (The Morgan Library & Museum, Music Manuscripts Online)

So kann ein einziges Blatt mit ein paar Schriftzügen gleichsam den höchsten Ausdruck menschlichen Glücks in sich zusammenpressen und das andere den Ausdruck tiefster menschlicher Trauer, und wer Augen hat, solche Blätter richtig anzuschauen, Augen nicht nur des Kopfes, sondern auch der Seele, wird nicht minderen Eindruck von diesen unscheinbaren Zeichen empfangen als von der offenkundigen Schönheit der Bilder und Bücher. Auf solche geheimnisvolle Weise haben die Autographen die Macht, uns die Gegenwart längst entschwundener Gestalten zurückzubeschwören, und wie entlang einer Galerie von Bildern, kann man an diesen Blättern vorübergehen, von jedem anders ergriffen und berührt. […]

Denn, ärmer an äußerer Schönheit, haben die Autographen dem Buch und dem Bilde doch eine ungemeine Tugend voraus: sie sind wahr. Der Mensch kann lügen, er kann sich verstellen, sich verleugnen, das Bild kann ihn verändern und verschönen, ein Buch kann lügen und ein Brief. Aber in einem ist der Mensch unlösbar an die innerste Wahrheit seines Wesens gebunden – in seiner Schrift. Die Handschrift verrät den Menschen, ob er will oder nicht, sie ist einmalig wie er selbst und spricht manchmal aus, was er verschweigt. Damit will ich nicht den übertreiblichen Graphologen das Wort reden, die Horoskope auf Zukunft und Vergangenheit in jeder flüchtigen Zeile entdecken wollen – nicht alles verrät die Schrift, aber das Wesentlichste eines Menschen, gleichsam die Essenz seiner Persönlichkeit ist uns doch gegeben in einer winzigen Abbreviatur. Verstehen wir sie so zu sehen, so zu lesen, dann wird uns eine Vereinigung von Autographen unwillkürlich zu einer physiognomischen Weltkunde, einer Typologie des schöpferischen Geistes. Aber auch eine moralische Lehre an uns alle geht von solchen Blättern aus, denn großartig erinnern sie uns, daß die Werke, die wir als vollendete bewundern, nicht bloß gütige Geschenke des Genius an den Künstler waren, sondern Frucht mühsamer, strenger, aufopfernder Arbeit. Sie zeigen uns die Schlachtfelder der geistigen Auseinandersetzung des Menschen mit der Materie.“

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