DER EIGEN-SINNIGE MENSCH

Es ist kein Druckfehler und auch keine typografische Spielerei, dass im Titel des Buches „Der eigen-sinnige Mensch. Körper, Leib & Seele im Wandel“ des deutschen Mediziners und Psychotherapeuten Helmut Milz im Wort „eigensinnig“ ein Strich eingefügt ist. Denn der „Eigen-Sinn“ ist hier der zentrale Begriff, geht es doch um die Sinne und die Wahrnehmung der Welt durch die Sinnesorgane, also um die traditionellen „fünf Sinne“ – das Tasten, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen –, sowie weitere sensorische Fähigkeiten, darunter der Bewegungssinn, der Raumsinn, der Zeitsinn, „intuitiver Spürsinn und Bauchgefühl, Empfindungen des Herzens und einige mehr“.

Pietro Paolini: Allegorie der Fünf Sinne (um 1630)
Pietro Paolini: Allegorie der Fünf Sinne (um 1630)

Dieses „Ensemble der Sinne“, wie es Milz nennt, gestaltet sich bei jedem Menschen in unterschiedlicher – also in jeweils „eigener“ – Weise. Allerdings wird heutzutage von vielen Menschen die bewusste Selbstwahrnehmung mehr und mehr an technische Geräte abgegeben in der Hoffnung, „dass die digitalen Rezeptoren ihrer Apps (…) ihr eigenes Befinden auswerten, hochrechnen und für sie in Handlungsanweisungen übersetzen, damit sie eine gewünschte oder geforderte ‚Selbstoptimierung‘ erreichen.“ Dies birgt allerdings auch Gefahren in sich, wenn die technologische Körperkontrolle „in den Händen von autoritären Systemen, autokratischen Machthabern und bedenkenlosen Geschäftemachern“ zunehmend zur externen Überwachung wird. Es gilt also, sich der „eigen-sinnigen“ Individualität bewusst zu bleiben – das ist eine der wichtigsten Botschaften des Buches von Helmut Milz.

In detailreicher Weise legt Milz dar, wie sich das Erleben und Verstehen des menschlichen Körpers und der Sinneswahrnehmungen im Lauf der Geschichte und in vielfältigen Wechselwirkungen mit der Entwicklung der Wissenschaft, mit sozialen Verhältnissen, Kultur, Umwelt anderen Faktoren gewandelt haben. So etwa, wenn er im Kapitel über den Tastsinn darauf verweist, dass über lange Zeiten und bis ins Mittelalter enger zwischenmenschlicher Kontakt als Wärmespender zwingend nötig war: „Man rückte eng ums Feuer zusammen und schlief zu mehreren aneinandergedrängt in einer Bettstatt. Die Erfindung von Kaminen, Heizungen und Fensterscheiben erlaubte später die Separierung von individuellen Schlafräumen. Es entwickelten sich größere körperliche Distanz und eine allgemeine Verringerung des alltäglichen Körperkontakts.“

Pieter Bruegel der Ältere: Allegorie von Tastsinn, Gehör und Geschmack (1618)
Pieter Bruegel der Ältere: Allegorie von Tastsinn, Gehör und Geschmack (1618)

In jedem der insgesamt zwölf Kapitel über das „Ensemble der Sinne“ (betitelt u.a. „Hören – Was uns zu Ohren kommt“, „Sehen – So weit die Augen reichen“, „Das Nervengeflecht – Informationen und Botschaften“, „Bauch und Bauchgefühle – Was alles zu verdauen ist“, „Muskelkraft und Muskelsinn – Bewegung und Gespür“) liefert Helmut Milz die jeweiligen physiologischen Basisinformationen und Fakten zur medizinischen Forschung, und zwar in einer Form, die auch für Laien gut lesbar und verständlich ist. Vor allem aber beleuchtet er das jeweilige Thema stets aus unterschiedlichsten Perspektiven. Da geht es beispielsweise um historische Entwicklungen, philosophische und religiöse Bewertungen. So etwa wenn im Kapitel über den Hörsinn zu erfahren ist, dass das Wort „Ohr“ eines der häufigsten im Alten Testament ist, und im Kapitel über den Sehsinn, dass man in der Antike glaubte, „dass ein ‚Sehstrahl‘ die äußeren Dinge ‚betaste‘. Auch die sprachgeschichtliche Herkunft des germanischen Begriffs ‚blikk‘ hatte ähnliche Bedeutungen: ‚Strahl‘, ‚schnelles Glanzlicht‘, ‚Blitz‘.“ Zum Thema gibt es aber auch Informationen wie etwa, dass „wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die bevorzugte Blickdauer zwischen fremden Menschen zwischen zwei und fünf Sekunden“ betrage und dass wir zirka zehn Millionen Reize und Impulse pro Sekunde über die Augen aufnehmen, von denen uns nur ein geringer Teil bewusst ist, die aber im Gehirn komplexe Bearbeitungsprozesse auslösen. Ebenfalls zum Kapitel „Sehen“ gehören Fragen, wie „Was blinde Menschen ‚sehen‘“ und worin optische Täuschungen bestehen, sowie jene nach der Rolle von Bildern in unterschiedlichen Religionen, jene nach dem „Sehen in der Kunst“, oder jene nach der Veränderung von Sehgewohnheiten durch die modernen Medien.

Im Kapitel über den Geschmackssinn verweist Helmut Milz darauf, dass dieser in der westlichen Tradition der Philosophie lange Zeit in der Hierarchie der Sinne als „niedrig“ galt: „Aufgrund seiner Nähe zu den animalischen Fressinstinkten stand er unter Verdacht. Appetit wurde in der Nähe der Tiere angesiedelt, und immer drohte die ‚Völlerei‘ als Feind des Denkens.“ Der Geschmacksinn ist stark beeinflusst von Kultur und Tradition, von individuellen Erfahrungen und persönlichen Erinnerungen – und er ist leicht verführbar, was sich die Nahrungsmittelindustrie intensiv zunutze macht: „Heute werden etwa der Hälfte aller Nahrungsmittel Aromastoffe zugesetzt“, schreibt Milz, und: „In gewisser Weise kann man sagen, dass das milliardenschwere Geschäft mit Aromastoffen auf der gezielten Täuschung unserer Sinne beim Essen beruht.“

Jacques Linard: Die Fünf Sinne und die Vier Elemente (1627)
Jacques Linard: Die Fünf Sinne und die Vier Elemente (1627)

Es sind erstaunlich viele unterschiedliche Aspekte, die Helmut Milz in seinem Buch über den „eigen-sinnigen Menschen“ behandelt. Dass er als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Allgemeinmedizin, Honorarprofessor für Public Health und ehemaliger Berater für Gesundheitsförderung bei der Weltgesundheitsorganisation über umfassendes Expertenwissen verfügt, mag sich von selbst verstehen. Beeindruckend aber ist es, wie viel an Wissen aus fachfernen Bereichen, wie etwa Literatur, Musik, Malerei, Kultur- und Sozialgeschichte, Theologie und Philosophie, er in sein Buch einzubringen wusste. Das macht den 340-Seiten starken Band überaus interessant und lesenswert. Übrigens: „Der eigen-sinnige Mensch“ ist kein Buch, das man konsequent Seite-für-Seite oder Kapitel-für-Kapitel lesen muss. Man kann durchaus eigensinnig an die Lektüre herangehen, zunächst jene Kapitel lesen, die einen am meisten ansprechen, man wird sich wohl manchem intensiver, vielleicht auch mehrfach widmen, einiges zunächst vielleicht überblättern – und sicher insgesamt viele Impulse und Anregungen aus dem klug illustrierten Werk beziehen.

Philippe Mercier: Der Geruchssinn (1750)
Philippe Mercier: Der Geruchssinn (1750)

Am Schluss seines Buches resümiert Helmut Milz: „Eigensinn macht Spaß“ – und bezieht sich damit auf Hermann Hesses Aufsatz „Eigensinn“, in dem der Schriftsteller bekannte: „Eine Tugend gibt es, die liebe ich sehr, eine einzige. Sie heißt Eigensinn.“ Denn, so Hesse – und mit ihm Helmut Milz: „Geld und Macht und all die Dinge, um derentwillen Menschen einander quälen und am Ende totschießen, sind dem zu sich selbst gekommenen Menschen, dem Eigensinnigen, wenig wert. Er schätzt eben nur eines hoch, die geheimnisvolle Kraft in ihm selbst, die ihn leben heißt und ihm wachsen hilft.“

Ausschnitt aus dem Cover des Buches „Der eigen-sinnige Mensch“ unter Verwendung des Werkes „Die Zeichen im Menschen“ von Oskar Schlemmer
Ausschnitt aus dem Cover des Buches „Der eigen-sinnige Mensch“ unter Verwendung des Werkes „Die Zeichen im Menschen“ von Oskar Schlemmer

Helmut Milz: Der eigen-sinnige Mensch. Körper, Leib & Seele im Wandel. AT Verlag, Aarau und München 2019.

15.7.2019

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