HAND IN HAND

Gespräche über Hände haben Konjunktur. Dies unter anderem deshalb, weil uns in letzter Zeit in vieler Hinsicht die Hände gebunden waren und man uns in gewohnten Unternehmungen nur wenig freie Hand ließ. Wir mussten erleben, wie sich vieles in unserem Leben plötzlich, im Handumdrehen, änderte. Als die unerwartete Pandemie überhand zu nehmen drohte, mussten die verantwortlichen PolitikerInnen und ExpertInnen kurzerhand die Situation in die Hände nehmen. Sie hatten alle Hände voll mit diesen Problemen zu tun und suchten händeringend nach geeigneten Maßnahmen, um möglichst rasch und effektiv zu handeln. Es brauchte Zeit, bis einige begreifen konnten, wie sie sich anders zu verhalten hätten, um gemeinsam, Hand in Hand, die veränderte Situation verantwortlich handhaben zu können.

Der globale und lokale Handel geriet zunehmend ins Stocken. Die „unsichtbare Hand“ des Marktes konnte vieles nicht mehr regeln. Manager (der Begriff „Manager“ kommt vom italienischen „maneggiare“ = handhaben, das sich vom italienischen „mano“ bzw. lateinischen „manus“ = Hand herleitet) mussten ihre Verhandlungen digital führen und lernen, sich gegen unbekannte Manipulationen (auch in „Manipulation“ steckt das lateinische „manus“ = Hand) aus dem Internet zu schützen. Die öffentliche Hand bewilligte großzügige Hilfen für die privaten Hände. Es sollte vermieden werden, dass viele nur noch von der Hand in den Mund leben könnten.

Statt anderen die Hand zu reichen, waren wir, aus hygienischen Gründen, angehalten diese weiter bei uns zu behalten. Zum Gruß werden jetzt weiterhin von manchen die Hände gefaltet, andere stoßen kurz die Fäuste oder Ellbogen aneinander oder legen ihre Hand aufs Herz. Dabei erinnern sich manche daran, wie rasch vor nicht allzu langer Zeit das gewohnte Händeschütteln durch einen verordneten Gruß mit ausgestreckter Hand ersetzt werden konnte.

Es reicht nicht mehr aus, sein Schicksal nur höheren Mächten anzuvertrauen oder in Gottes Hand zu legen, sondern entscheidend ist, dass wir dieses selbstverantwortlich in die eigenen Hände nehmen. In dem bekannten amerikanischen Protestsong „We shall overcome“ heißt es hoffnungsvoll: „Weʼll walk hand in hand, some day“, und einer der bekanntesten Beatles-Songs der 1960er Jahre verkündete: „I want to hold your hand“. Bleibt die Frage, wann dieses freie Spiel der solidarischen und liebenden Hände wieder vorbehaltslos zu unserem Alltag gehören wird.

Anonym: Allegorische Darstellung mit grüßenden Händen, um 1750. Ausschnitt (Rijksmuseum, Amsterdam)

VERGESSEN WIR ZUNEHMEND DIE HÄNDE?
„Mann mit zugeknöpften Taschen, / Dir tut niemand was zulieb: / Hand wird nur von Hand gewaschen; / Wenn du nehmen willst, so gib!“ (Johann Wolfgang von Goethe: Wie Du mir, so ich Dir)

„Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen, electric telegraphs, selfacting mules etc. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffene Organe des menschlichen Hirns; vergegenständliche Wissenskraft.“ (Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie)

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch stellt in seinem Buch „Hände – Eine Kulturgeschichte“ eine zunehmende „Handvergessenheit“ fest. „Gerade in einer Epoche des umfassenden Körperkults“ erfahre die Hand, als das „komplexeste“, „produktivste und destruktivste Organ schlechthin“, eine „irritierende Vernachlässigung“ und verliere „an Ansehen“. Dies verdeutlichten beispielsweise, so Hörisch, die Krise der Handwerksberufe oder der Handschrift. Die augenblicklich geringe Wertschätzung von jeglicher Handarbeit durch die „digital natives“ der akademischen Eliten wird in manchen Industrieländern als möglicher Grund für soziale Polarisierungen und Populismus diskutiert. Die Abschaffung der individuellen Handschrift zugunsten der Druckschrift ist in einigen Ländern bereits Fakt.

Hörisch verweist darauf, dass zentrale kognitive und emotionale Begriffe unserer Sprache „unüberhörbar aus der haptischen und taktilen Sphäre“ entstammen. Manuelles Zufassen und Erfassen seien Bedingungen zum geistigen Auffassen, denn Begreifen gehe den Begriffen voraus. Zunehmend stelle sich gesellschaftlich die Frage, was wir noch selbst in der Hand hätten und in wessen Händen wir uns befänden. „Menschen haben zwar nicht ihr Leben, aber die deutende Wertung ihres Lebens in der Hand.“

Eine bemerkenswerte Gruppe von historischen „Handzeugen“ wird von Hörisch in ihrem häufigen und plastischen Gebrauch von gestischen Beschreibungen und Handmetaphern zitiert. Im Vordergrund steht bei ihm Johann Wolfgang von Goethe, von der „eisernen Hand“ des „Götz von Berlichingen“ über das „Hand an sich legen“ im „Werther“ bis hin zum „Faust“. Auch Friedrich Schlegel, der in den Händen „Fühlhörner der Vernunft“ sah, Rainer Maria Rilkes Betrachtungen der Handplastiken Auguste Rodins, Franz Kafkas „Dialog der Hände“, Handgesten und Handformen der Figuren in Thomas Manns „Buddenbrooks“ oder Jean Paul Satres „Schmutzige Hände“ liefern handfeste Beiträge zum Thema.

Jochen Hörisch stellt aktuelle „Handverwandschaften“ zu Begriffen wie Manieren, Manipulation, Emanzipation, Manöver oder Manager her – sie sind alle vom lateinischen Wort für Hand, „manus“, abgeleitet. Er setzt sich mit der Bedeutung unterschiedlicher, unsichtbarer „Aktanten“ (Begriff aus der Akteur-Netzwerk-Theorie des französischen Soziologen Bruno Latour) auseinander, welche „als Dinge“ „unseren Händen und Hirnen etwas vorschreiben“. Die bergende und schützende „Hand Gottes“ und die „invisible hand“ – jene vom Nationalökonomen Adam Smith (1723–1790) verwendete Metapher des ökonomischen Marktes – werden als „häufig schicksalsträchtige“ „Exekutivorgane“ in unseren Leben behandelt. Hörisch fragt auch, ob unsere Hände noch als das „Delta“ dienen können, „in dem Leben zusammenfließt“, wie dies die traditionelle Handlesekunst (Chiromantie) sehe? Sein Buch ist gut lesbar, hat spannende Passage und ist ein Gewinn für alle, die Literatur lieben.

Klapper in Handform. Ägypten, ca. 1900–1640 v.u.Z. (The Metropolitan Museum of Art, New York)

BEGRÜSSEN WIR EINANDER IN ZUKUNFT „FREIHÄNDIG“?
 „The Shaky Future of Handshaking“ (Bjarke Oxlund, 2000)

Für manche, die im Händedruck fast schon eine „virale Bombe“ sehen, wie der amerikanische Seuchenexperte Antoni Fauchi, ist das Ende der Geste des Händedrucks bereits eine Tatsache. Andere sind sich dabei nicht so sicher (s. Hauser, Micah: The Handshake. The New Yorker, 4.5.2020). Eine überraschende Kronzeugin für das mögliche Gegenteil ist die britische Paläoanthropologin, Evolutionsbiologin und Stand-up Komödiantin Ella Al-Shamahi. In ihrem klug und humorvoll geschriebenen Buch „Der Handschlag. Die neue Geschichte einer großen Geste“ erkundet sie flott die lange Geschichte dieser Art der Handreichung aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie stellt von Beginn an klar, dass sie damit keinen Nachruf auf das Händeschütteln schreiben möchte. Ihre Position ist umso überraschender, als Al-Shamahi, aufgrund ihrer jemenitischen Abstammung und muslimischen Erziehung, während der ersten 25 Jahre ihres Lebens in Großbritannien überhaupt keine Hände schütteln durfte. Inzwischen versteht sie dies säkularer und praktiziert Händeschütteln ähnlich selbstverständlich wie andere „Berührungseinheiten“ durch Umarmungen oder Küsse.

Aus evolutionsbiologischer Sicht spricht, nach Ansicht der Autorin, einiges dafür, dass die Genese des Händekontakts in Variationen über mehr als sieben Millionen Jahre zurückreicht bis hin zu Primaten, wie Bonobos und Schimpansen, sowie Neandertalern und frühen Höhlenmenschen. Ist es bei Primaten vornehmlich Bindungsverhalten, Kommunikation oder auch versöhnendes „Fingerschütteln“, so könnte es bei den Höhlenbewohnern, zusätzlich zu den Handmotiven auf ihren Wandmalereien, auch eine spezifische Orientierungsfunktion gehabt haben. Die wirkliche „Beweislage“ für diese Hypothese scheint aber eher etwas dünn zu sein.

Al-Shamahi beschreibt ethnologische Beobachtungen von zivilisationsfernen, indigenen Völkern, welche ähnliche Handkontakte zur Begrüßung pflegen. Weitere verloren gegangene und für uns eher seltsam anmutende Formen der Begrüßung in fremden Kulturen, wie etwa das Brustsaugen, Penisschütteln, Bartstreicheln oder Brustklopfen, werden von ihr kurz gestreift. Bereits seit den frühen mesopotamischen Kulturen, über Griechen, Römer und die mittelalterlichen Höfe, diente der Handschlag als eine versöhnliche, friedenstiftende Geste, aber auch als eine hierarchische Geste der Unterwerfung. Erst seit dem 17. Jahrhundert etablierten sich langsam Handschlag oder Händeschütteln auf gleicher sozialer Ebene. Möglicherweise spielten dabei die Quäker in den USA eine Vorreiterrolle. Die Verweigerung des Handschlags machte dabei den anderen zum Außenseiter – eine Gewohnheit, die in Zeiten der aktuellen Pandemie für manche unbewusst nachzuwirken scheint.

Dekor eines Löffels. Ägypten, ca. 1295–1070 v.u.Z. (The Metropolitan Museum of Art, New York)

Aus neueren Forschungen wissen wir heute mehr über die möglichen Bedeutungen von chemischen Geruchssignalen bei Handkontakt, die durch Berührungen provozierten Hormonausschüttungen, die häufig sedierenden Reaktionen des parasympathischen Nervensystems oder die psychologischen Signale, welche auf ein größeres „Vertrauen“ in „leere, fremde, unbewaffnete Hände“ hinweisen.

Die informelle Besiegelung von Geschäften und Verträgen per Handschlag hat dazu geführt, dass in Business-Schulungen und Politikerberatungen, vor allem im Hinblick auf transkulturelle Verhandlungen, die Kunst des Händeschüttelns ein zentraler Inhalt geworden ist. Warum diese Praxis in vielen orientalischen oder asiatischen Kulturen über lange Zeit wenig praktiziert wurde, darüber stellt die Autorin nur Spekulationen an. Die „richtige“ Art des Händeschüttelns (mit sauberen Händen, versteht sich) beinhaltet eine genaue Orchestrierung von Bereitschaft, Gleichheit, Symmetrie, Griffstärke und rechtzeitigem Loslassen. Für deren Gelingen oder Misslingen, in historischen und politisch entscheidenden Begegnungen, gibt die Autorin bemerkenswerte Beispiele.

Durch das aktuelle Verschwinden der, früher weitgehend unbewussten, Praxis des Händeschüttelns wird vielen Menschen deren Bedeutungen erst jetzt klarer. Ella Al-Shamahi beschreibt kurz historische Pandemie-Situationen, in denen ebenfalls ein hygienisches Verbot des Händeschüttelns bestand. Es gibt zu jeder Zeit Gründe, um den Kontakt mit ungewaschenen „Flossen“ besser zu vermeiden. Sie können immer auch eine Brutstätte von Krankheitskeimen sein. In dieser Hinsicht sind „Faust- oder Ellbogen-Bumps“ sicher weniger gefährlich. Allerdings zeigen Studien seit der COVID-Ära, dass sich die Gewohnheiten des Händewaschens aktuell deutlich verändert haben. Dies geht bisweilen so weit, dass Hautärzte schon vor den möglichen Nebenwirkungen warnen und den vermehrten Gebrauch von Desinfektionsmittel statt Seife empfehlen.

Früher stand der Begriff „freihändig“ eher für eine stolze Leistung, die man erst nach längerer Übung gemeistert hatte. Ob wir dies in Zukunft auch für die Geste des Händeschüttelns so sehen werden (müssen)? Ella Al-Shamahis Fazit ihres sehr empfehlenswerten Buchs: Wahrscheinlich wirkt keine biologische, epigenetisch gewachsene, kulturell ausgestaltete Grundform im zwischenmenschlichen Austausch so rasch und so gut auf die beteiligten Menschen, wie das gewohnte Händeschütteln. Diese Geste habe durchaus auch manche hygienische Nachteile. Sie werde häufig mit unsinnigen Erwartungen und Formeln überladen. Die Pandemie zeige aber einmal mehr, dass unkomplizierte, zwischenmenschliche Berührungen für uns wichtig sind und auch bleiben. Dementsprechend werde es für die meisten Menschen, wenn auch erst nach dem völligen Verschwinden von COVID und einer Übergangszeit, eine vorsichtige Rückkehr zu dieser vertrauten Gewohnheit geben.

Miniatur-Konsole in Form einer Hand. Assyrisch, ca. 883–859 v.u.Z. (The Metropolitan Museum of Art, New York)

(SELBST-)VERSTÄNDLICHE BE-GRIFFE UND GESTEN
„Là ci darem la mano“ (Lorenzo Da Ponte / Wolfgang Amadeus Mozart: Don Giovanni)

„Wenn man aber sagt: ‚Wie soll ich wissen was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‘, so sage ich: ‚Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen‘.“ (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen)

Durch den aufrechten Gang, sowie die folgende Freisetzung der Hände als Werkzeuge, insbesondere die Umformung des Daumens und dadurch ermöglichte neue Griffe, wurde auch das Begreifen erweitert. Gestische Ausdruckformen für Gefühle und Gebärde führen manchmal ein Eigenleben, welches unser Sprechen verdeutlicht und untermalt. Sie können den Worten unbeabsichtigt auch widersprechen. Bisweilen ersetzen sie die Sprache auch ohne Worte. Sie können gezielt erlernt, zur Dramatisierung oder zur gezielten Manipulationen eingesetzt werden.

Der Begriff „Hand” leitet sich sprachgeschichtlich vom altgermanischen „handu“ = „die Greifende, Fangende“ ab. Anatomisch besteht eine menschliche Hand aus 27 Handknochen, 36 Gelenken, 39 Muskeln, den dazugehörigen Sehnen und Bändern, sowie Blutgefäßen und Nerven. Erst im Zusammenspiel mit dem gesamten Arm und der Brustkorbmuskulatur werden die unglaubliche Vielfalt, von den feinsten bis zu den gröbsten Handbewegungen, nachvollziehbar. Nicht nur ihre motorischen, sondern auch die gleichzeitigen sensorischen Fähigkeiten der Tastsinne, ihr Fingerspitzen- und Feingefühl für Berührungen, Druck, Temperatur oder Schmerz, machen die Hände zu außergewöhnlich empfindsamen, taktilen (lat. „tangere“ = berühren) Organen. Die sensorischen Fähigkeiten der Hände gehen parallel einher mit ihren aktiv erkundenden, motorisch „haptischen“ (altgriechisch „haptos“ = fühlbar, zum Berühren geeignet) Möglichkeiten.

Hände schließen und öffnen sich, halten und lassen los, nehmen und geben, bewegen sich mit dem Arm in unterschiedlichen Reichweiten und Tempi, Intensitäten und Kraftanstrengungen. Sie dienten den frühen Menschen als erstes Gefäß, mit dem sie Wasser schöpften und möglicherweise später auch als Vorlage für manuell hergestellt Behälter. Alle Handgriffe und -bewegungen zu benennen würde viele Seiten füllen – wie etwa die aus Alltag, Haushalt, Arbeitsleben, Beziehungen, Liebe, Partnerschaften, Erziehung, religiösen Ritualen, Medizin, Heilkünsten, bildenden Künsten, Musik oder Sport.

Hand aus Marmor, eine Schriftrolle haltend. Römisch, 1.-2. Jahrhundert (The Metropolitan Museum of Art, New York)

EIGENHÄNDIGE ERFAHRUNGEN
„Wenn Du eine hilfreiche Hand brauchst, so suche sie am Ende deines Armes.“ (Nossrat Peseschkian: Weisheitsgeschichten aus dem Orient)

Hände, Berührungen und Kontakte haben in meinem beruflichen und privaten Leben eine wesentliche Rolle gespielt. Vom behutsamen Kontakt mit neugeborenen Kindern über beruhigende und angstlindernde Berührungen, bis hin zum begleitenden Handkontakt mit sterbenden Menschen waren sie die spürbare Verbindung mit denen, deren Schicksale auch meinen Händen anvertraut waren. Obwohl ich eher ein Kopfarbeiter geblieben bin, hätte ich ohne meine Hände vieles nicht begreifen können.

Am Beginn meiner Ausbildung stand das anatomische Zerlegen, Analysieren und Studieren von Armen und Händen, sowie das Erkennen der Ursprünge und Ansätze der einzelnen Elemente und Strukturen, welche deren unglaubliches Bewegungsspiel erst ermöglichen. Danach kamen Unterweisungen in der manuellen, ärztlichen Untersuchungskunst. Es ging um die Beschaffenheit, Farbe, Temperatur, Feuchtigkeit, Spannung, Beweglichkeit und den Widerstand von Haut und Geweben. Durch sensibles Ab-, Be- und Ertasten, Drücken, Zupfen oder Klopfen sollten die Größe, Konsistenz, Elastizität, Beweglichkeit oder Schmerzhaftigkeit von Organen oder tiefergelegenen Strukturen gespürt werden. Erst durch langjährige, körperliche Untersuchung von tausenden Menschen konnte ich wirklich Erfahrung gewinnen.

Besondere Aufmerksamkeit widmete ich meinen Händen während der chirurgischen Lehrjahre. Die sorgfältigen Waschrituale mit Bürste, Seife und Desinfektionslösungen, sowie die übergestülpten, sterilen Gummihandschuhe waren tägliche Begleiter. Die Wundversorgung, Tausende von gezielten Nadelstichen und sorgsamen Knoten gehörten zum operativen Handwerk. Auf der nachfolgenden gynäkologisch-geburtshilflichen Etappe wurden einfühlsames Ertasten der Lage und Bewegung von ungeborenen Kindern im Mutterbauch, des Geburtsfortschritts oder die geschickten Hände der Hebammen wichtig. Eine Besonderheit war für mich das erste Waschen von neu geborenen Kindern, samt ihren winzigen Händchen.

Einige Jahre später habe ich, während einer ärztlichen Auszeit, eine Massageausbildung gemacht und dabei weitere Dimensionen des behutsamen, heilsamen Kontakts kennengelernt. In körpertherapeutischen Weiterbildungen konnte ich mein Berührungs- und Bewegungsrepertoire erweitern und verfeinern. Dabei wurde mir deutlich, wie wichtig es ist, vor einer professionellen körperlichen Berührung kurz um das Einverständnis der PatientInnen nachzufragen und zu lernen, die Untersuchungen mit möglichst „leeren Händen“, sprich ohne vorschnelle Annahmen, durchzuführen. In meiner psychotherapeutischen Arbeit haben die vielgestaltigen Händedrücke zur Begrüßung der PatientInnen einen besonderen diagnostischen Wert bekommen. Die Be(ob)achtungen von Handgesten wurden im Verlauf der Therapie zu einem wichtigen Bestandteil.

Neue Begrüßungsgesten gewinnen allmählich an Bedeutung. Ob und wann uns unsere Hände wieder weniger gebunden sein werden und wann wir uns mit diesen wieder freier bewegen können, bleibt weiter ungewiss. Trotzdem können wir allen Händen mehr Wertschätzung schenken, unseren eigenen und denen der anderen.

Die beiden im Beitrag besprochenen Bücher zum Thema „Hände“ sind:
Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte. Hanser Verlag, München 2021.
Ella Al-Shamahi: Der Handschlag. Die neue Geschichte einer großen Geste. Aus dem Englischen übersetzt von Violeta Topalova. Verlag Harper Collins, Hamburg 2023.

Anmerkung: Die Abbildungen in diesem Beitrag stellen eine thematische Ergänzung dar und stammen nicht aus den besprochenen Büchern. Bildrecherche: B. Denscher

11.5.2023

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