MENSCHEN- UND KÖRPERBILDER IM MITTELALTER

Kulturhistorische Forschungen haben sich seit Mitte der 1980er Jahre verstärkt Fragen des geschichtlichen Körpers zugewandt. Nachdem lange Zeit die klassischen Körperideale und -praktiken der Griechen und Römer im Mittelpunkt standen, entwickelte sich allmählich auch ein neues Interesse an den Körpervorstellungen des Mittelalters. Dieses wurde lange Zeit verkürzt nur als eine „finstere Epoche“ verstanden.

Neben äußeren Verhaltensänderungen hat der Soziologe Norbert Elias aber ab dem Hochmittelalter auch die historischen Prozesse der Entwicklung von neuer, innerer Selbstkontrolle der Gefühlsregungen dargestellt, wie etwa Scham, Blamage, Peinlichkeit, sowie veränderte kulturellen Alltagsmanieren (z.B. Tischsitten, Essen mit einer Gabel usw.). Wie gut diese unterschiedlichen Ebenen der Existenz der Menschen „zusammenpassen“, davon hängt ab, wieviel Gesundheit und Krankheit sich jeweils entfalten oder ereignen können.

Der menschliche Körper sei im Mittelalter zugleich „glorifiziert und unterdrückt, gepriesen und gedemütigt“ worden, vermerkte der Historiker Jaques Le Goff.[1] Damit habe das Mittelalter sich auch zu einem gewissen „Prägestempel“ für Körperkonzepte der Gegenwart entwickelt. Neuere Forschungen zur Epoche vom 5. bis zum 15. Jahrhundert zeigen, dass sich hier in vieler Hinsicht Wurzeln für manche aktuelle Entwicklungen finden lassen.

„begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“
Das Landesmuseum Zürich zeigt derzeit die Ausstellung: „begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“. Dazu ist im Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess ein ausführlich kommentiertes und sehr anschaulich bebildertes Buch erschienen. Dieses ist nach den ausgewählten Motiven der Menschen- und Körperpräsentationen in der Ausstellung geordnet: „Nackt-begehrt-ideal-krank-anders-leidend-tot“. Jedem Themenkomplex ist ein begleitender Essay beigefügt.

Der Historiker Valentin Groebner kommentiert in diesem spannenden Buch die zu kurz greifende Formulierung „eines Körpers“ in „dem“ Mittelalter, denn sie könne in dieser Generalisierung der Thematik nicht gerecht werden. Im Zusammenhang mit einer erstaunlich fantasievollen Darstellung der „Schwangeren Maria“ mit dem Jesuskind im Mutterleib, entstanden um 1505, wird darauf verwiesen, dass Gelehrte und Medizinkundige bereits seit dem 11. Jahrhundert begonnen hätten, sich mit Fragen zum embryonalen Formungsprozess auseinanderzusetzen.

Die kirchlich inspirierten Vorstellungen von der Auferstehung der toten Körper zum Jüngsten Gericht, welche in wieder intakten Formen von ungewöhnlich jungen Körpern erscheinen, zeigt das um 1500 entstandene Fresko „Resurrezione della carne“ („Auferstehung des Fleisches“) von Luca Signorelli im Dom von Orvieto.

Luca Signorelli, „Resurrezione della carne“ (Wikimedia Commons)
Luca Signorelli, „Resurrezione della carne“ (Wikimedia Commons)

Der Sozialhistoriker Franz X. Eder beschäftigt sich im Band „begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“ mit dem „ambivalent-heterogenen“ Sittenbild der Sexualität im Verlauf des Mittelalters. Aufgrund des breiten kulturellen Gemischs des heidnischen Paganismus im frühen Mittelalter sei es der christlichen Kirche erst ab dem Hochmittelalter gelungen, eine einheitlichere Ehemoral durchzusetzen. Vorherrschend war die Ansicht der Kirche von der Frau als Verführerin, gleichzeitig wurde ein langer Katalog von Geboten und Verboten zu den damaligen Sexualpraktiken erstellt, mit dem expliziten Verbot von Homosexualität oder transreligiöser Sexualität. Zugleich seien die homoerotischen Gewohnheiten etwa von Mönchen oder Rittern, sowie die Prostitution als notwendige Übel zur sittlichen Ökonomie geduldet worden. Praktiken des nackten, gemeinsamen Bades in öffentlichen Badestuben oder in Heilbädern unter freiem Himmel dienten bisweilen häufiger auch zu anderen Vergnügen als nur zur Reinigung oder als Jungbrunnen.

Hans Bock der Ältere, Das Bad zu Leuk (das Bild trägt diesen Titel erst seit 1907. Ob tatsächlich Leukerbad im Wallis dargestellt ist, welches zur Entstehungszeit des Bildes sehr bekannt war, ist nicht feststellbar), um 1597 (Kunstmuseum Basel / Public Domain)
Hans Bock der Ältere, Das Bad zu Leuk (das Bild trägt diesen Titel erst seit 1907. Ob tatsächlich Leukerbad im Wallis dargestellt ist, welches zur Entstehungszeit des Bildes sehr bekannt war, ist nicht feststellbar), um 1597 (Kunstmuseum Basel / Public Domain)

In Zusammenhang mit der Thematik der Körperideale hinterfragt der Mittelalterhistoriker Christian Jaser einige bisher geläufige Forschungen über die Sport- und Wettbewerbspraktiken des Mittelalters. Mit Bezug auf die betonten Gesundheitswirkungen von Bewegung bei Galenus, der dominierenden Arztpersönlichkeit des Mittelalters, seien athletische Praktiken und Spiele sehr wohl auch zu jener Zeit gefördert worden. Es habe durchaus auch sportliche Frauenwettbewerbe gegeben. Vor allem aber habe die Körperkultur der Ritter mit Reiten, Schwimmen, Fechten, Bogenschießen oder Faustkämpfen damals hohes Ansehen genossen.

Gegen die permanente Bedrohung der mittelalterlichen Körper durch Krankheiten infolge verdorbener Speisen und Getränke, durch Unfälle oder Infektionen, Komplikationen im Kindbett oder Totgeburten, sowie die allgemein kurze Lebenserwartung und die limitierten Möglichkeiten der damaligen Medizin habe damals „oft nur noch beten geholfen“, vermerkt der St. Gallener Historiker und Stiftsbibliothekar Cornel Dora in seinem Beitrag zum Band „begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“.

Im Abschnitt „anders“ beschreibt die Kunsthistorikerin Christine Keller die auffällige Faszination des Mittelalters für fehlgebildete Körper und für angebliche Wunderwesen, Riesen, Zwerge, Monster oder wilde Gestalten in den Legenden, Mythen, Phantasien, sowie die eventuellen Schuldzuweisungen an die Mütter dieser Gestalten. Oft galt die Geburt solcher „anderer Körper“ auch als ein Omen für drohendes Unheil.

Die bildnerische Darstellung von Leiden, Grausamkeiten, Martyrien und Verstümmelungen ist das Thema des Beitrags des Kunsthistorikers Assaf Pinkus. Er sieht in den monumentalen Darstellungen von Angst und Schmerz in der christlichen Kunst den symbolischen Kampf zur Überwindung des Bösen durch das leidende Selbst. Den Körper zu quälen sei dabei als ein heilender Akt verstanden worden. Ab dem 13. Jahrhundert sei aber auch durch Thomas von Aquin erstmals die individuelle Form der Gewalt problematisiert worden. Er habe den Körper explizit als persönliches, „psychosomatisches“ Eigentum des Einzelnen verstanden, das es zu respektieren gelte.

Stefan Lochner, Martyrium des hl. Bartholomäus, nach 1435 (Städel Museum, Frankfurt am Main / Public Domain)
Stefan Lochner, Martyrium des hl. Bartholomäus, nach 1435 (Städel Museum, Frankfurt am Main / Public Domain)

Dem mittelalterlichen Verständnis von „Toten Körpern“ widmet sich der Historiker Romedio Schmitz-Esser. Sicherlich gelte dies nicht für alle Menschen jener Epoche, so Schmitz-Esser, aber für die „christliche Mehrheitsgesellschaft“ seien die Bestattungsrituale der Kirche – Aufbahrung, Einsegnung, Bestattung auf den zentralen Friedhöfen oder später auch in Beinhäusern – wesentlich gewesen. Der Tod sei in dieser Zeit immer vor Augen gewesen und als „Gottes Schnitter“ habe er in den bildlichen Darstellungen alle „heimgeholt“, ohne Ansehen des sozialen Standes.

Als ein Beispiel für das mögliche Ausmaß der damals extrem hohen Kindersterblichkeit nennt der Autor die Familie Albrecht Dürers. Von Dürers insgesamt 17 Geschwistern hätten nur drei das Erwachsenenalter erreicht. Als besondere Kapitel im mittelalterlichen Umgang mit Verstorbenen beschreibt Romedio Schmitz-Esser die Umwandlung von „Leib und Blut Christi“ in der Transsubstantiation, der Wandlung in der katholischen Kirche, sowie deren Umgang mit einzelnen Körperteilen von Heiligen als Reliquien.

Ein anderer historischer und kultureller Zugang zu den eigenen Sinnen
Auch wenn sich an der biologisch-physiologischen Organisation der menschlichen Sinne seit dem Mittelalter kaum etwas geändert hat, so war die Art und Weise, wie die Menschen in jener Zeit ihre Sinneseindrücke erlebt und bewertet haben, wahrscheinlich erheblich anders als heute. Bedingt durch zeitgenössische religiöse und spirituelle Rituale waren etwa dem Geruch oft auch besondere moralische Qualitäten, wie „himmlische Düfte“ oder „teuflischer Gestank“, beigemischt.

Sehen hatte bisweilen Qualitäten von „Berührung“ und war zeitweise mit der Idee eines ausgesandten „Sehstrahls“ belegt. Ein „böser Blick“ konnte dementsprechend Unheil anrichten. Worte schienen fast sinnlich aus dem Mund des Sprechers zu kommen und nicht nur ins Ohr, sondern in den ganzen Menschen einzudringen. „Die Doktrin der fünf spirituellen Sinne war populär unter Theologen des Mittelalters. Sie führte zu einer damit verbundenen Doktrin von Erinnerung, Abschätzung (Instinkt), Vorstellung, Fantasie, und dem Gemeinsinn (von dem man annahm, dass dieser die Informationen, welche die fünf körperlichen Sinne gesammelt hatten, zusammenführte), und die schließlich die nach innen gerichteten Sinne schufen“, schreibt dazu die Kulturanthropologin Constance Classen.[2]

Neben diesen spirituellen Aspekten kann von einer gänzlich anderen Sinnesgewöhnung ausgegangen werden, als wir dies heute gewohnt sind. Der alltägliche Gestank von Exkrementen, die enge Lebensgemeinschaft mit Tieren, die gänzlich anderen Routinen der Hygiene, die unterschiedlichen Aromen der Speisen, die anderen Berührungsqualitäten der Kleidermaterialien, die veränderten Temperaturen der Innen- und Außenräume, die Ausdünstungen gemeinsamer Schlafstätten und viele andere Sinneswahrnehmungen führten zu einem polysensorisch anderen Alltagserleben im Mittelalter, das wir bei allen bildlichen oder schriftlichen Quellen aus dieser Zeit nicht vergessen dürfen.

Auswirkungen von mittelalterlichen Einflüssen der Heilkunde, Hygiene und Hospitalgründungen
Die Gesundheitsregeln der „6 nicht-natürlichen Dinge“ aus der griechischen Diätetik (Licht und Luft der Umgebung, Essen und Trinken, Arbeit/Bewegung und Ruhe, Wachen und Schlafen, Ausscheidungen und Entleerungen, ausgewogener Umgang mit den Leidenschaften) wurde im Mittelalter neu betont. Sie gelten in modifizierter Form auch heute als Basis von moderner Prävention und Gesundheitsförderung. Durch die Entwicklung der benediktinischen Klostermedizin und ihrer Pflegeabteilungen wurden die Grundlagen der heutigen Krankenhäuser gelegt. Aber manche mittelalterlichen Impulse der christlichen Sexual- und Ehemoral oder auch manches schlechte (sündige?) Gewissen von erkrankten Menschen zeigen mögliche Verbindungen zu negativ-belastenden Schatten aus dieser geschichtlichen Periode auf.

Mehr zu den Menschen- und Körperbildern dieser langen Epoche
Nach dem Untergang des Römischen Reichs entwickelte sich seit dem 4./5. Jahrhundert eine lange Periode der Durchmischung verschiedener Kulturen. Es war eine große Integrationsleistung der Klöster, diese verschiedenen Strömungen in der halbnomadischen Lebensweise der breiten Bevölkerung und der neu entstehenden Städte zu vereinigen. Mitte des 6. Jahrhunderts gründete Benedikt von Nursia das Benediktinerkloster Montecassino. Von diesem ging eine anhaltende Tradition in der Krankenpflege aus. Mitte des 9. Jahrhunderts wurden umfassendere Klosteranlagen zur stationären Pflege gegründet, wie etwa im Kloster St. Gallen. Noch heute erinnern „Heilig-Geist-Spitale“ an diese ersten Gründungen.

Krankensaal im „Hôtel-Dieu“, das – gegründet 651 – das erste Krankenhaus in Paris war. Faksimile nach einen Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert (Wikimedia Commons)
Krankensaal im „Hôtel-Dieu“, das – gegründet 651 – das erste Krankenhaus in Paris war. Faksimile nach einen Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert (Wikimedia Commons)

Karneval und Fastenzeit
Die unterschiedlichen Bewertungen des menschlichen Körpers im Mittelalter bewegten sich oft zwischen denen eines „abscheulichen Gewands“ und einem „Tabernakel des Heilen Geistes“. Asketische mönchische Ideale, Weltverachtung, Büßerhemd, Geißelungen, Schlafen auf nacktem Boden, Verteufelungen von Sex und Nacktheit, Homophobie, Unterscheidung der Frauen in „Eva als Sünderin“ und „Maria als Erlöserin“, Missbilligung von öffentlichem Lachen und ungezogenen Gesten, Verhinderung von Theateraufführungen oder sportlichen Wettkämpfen waren die eine Seite.

Demgegenüber waren die Polygamie des Adels und der Reichen häufig gegeben und all das, was die Kirche offiziell zu unterdrücken versuchte, drang während der übermütigen Phasen des Karnevals mit seinen Maskeraden und Narrenumzügen machtvoll an die Öffentlichkeit. Pieter Bruegel der Ältere hat dieses – weit über das Mittelalter hinauswirkende –unterschiedliche Geschehen in seinem Ölbild „Kampf zwischen Fasching und Fasten“ dargestellt.

Pieter Bruegel der Ältere, Kampf zwischen Fasching und Fasten, 1559 (Wikimedia Commons)
Pieter Bruegel der Ältere, Kampf zwischen Fasching und Fasten, 1559 (Wikimedia Commons)

Aus heutiger Sicht kommen uns manche mittelalterliche Vorstellungen vom Menschen, seinem Körper, seiner Gesundheit und seinen Krankheiten eher wie „Hokuspokus“ vor. Dieser meist spöttisch verstandene Begriff wurde vermutlich im 16. Jahrhundert geprägt. Seine Entstehung ist unklar, eine durchaus plausible Erklärung aber lautet, dass „Hokuspokus“ die Verballhornung der für die meisten Laien unverständlichen, da lateinisch formulierten Wandlungsformel der katholischen Messe „Hoc est enim corpus meum“ – „Das ist mein Leib“ ist.

Die Deutungshoheit der christlichen Kirche, „Iatrotheologie“ und der Vorrang des Seelenheils
Die Deutungshoheit über den menschlichen Körper war im mittelalterlichen europäischen Kulturraum stark von Vorstellungen und Dogmen des Christentums und dessen Würdenträgern geprägt. Im Verständnis der christlichen Kirche war der menschliche Körper vor allem eine vorübergehende „Hülle“ und eine Behausung für die prinzipiell höher bewertete „Seele“ auf deren Weg in ihre angestrebte göttliche Heimat. Primär galt deshalb die Sorge dem kirchlich angeleiteten „Seelenheil“, um so einen möglichst gut vorbereiteten Übergang in den postmortalen Wartezustand eines imaginierten „Fegefeuers“ zu ermöglichen, bis danach schließlich die erhoffte, auch körperliche Auferstehung nach dem „Jüngsten Gericht“ eintreten werde.

Angesichts der insgesamt deutlich geringeren allgemeinen Lebenserwartung im Mittelalter und der oft plötzlich auftretenden tödlichen Krankheiten galt zumeist und vor allem von kirchlicher Seite aus die Regel, dass ärztlicher Beistand als sekundär und die priesterliche Beichte und Absolution als primär anzusehen seien. Nur so sei zu vermeiden, dass mögliche Sünder und Sünderinnen nach ihrem Tod nicht gleich als „Sündenböcke“ durch den Höllenschlund fahren müssten, sondern sich stattdessen der Herde der „braven Lämmer“ im Fegefeuer zugesellen könnten.

Für die Menschen des christlichen Mittelalters galt es, sich und den eigenen Körper vor den negativen Auswirkungen von moralisch-sündhaften Verfehlungen, wie Wollust, Völlerei, Ehebruch oder Ketzerei, zu (be)schützen. Dazu gab es genaue kirchliche und auch ärztliche Verhaltenskodexe. Wem dieses (Be)schützen aber nicht ausreichend gelang, dem drohten heftige Strafen in Form von Krankheiten oder Schmerzen. Diese Leiden galten dann häufig als das „irdische Moratorium“ einer notwendigen Buße. Der Medizinhistoriker Karl Rothschuh hat die religiösen, philosophisch-theologischen Vorstellungen, Erklärungen und Grundsätze des mittelalterlichen Christentums über Leiden und Krankheiten, die als „sinnvolle Ereignisse im geheimen Plan Gottes“ verstanden wurden, mit dem Begriff „Iatrotheologie“ (von griechisch „iatros“ = Arzt, Heilkundiger) bezeichnet. Christus sei nach dieser theologischen Ansicht der wahre Arzt gewesen und jedes ärztliche Handeln demnach Gottesdienst.[3]

Das gelehrte medizinische Konzept der Säftelehre
Die logisch-theoretischen Körperkonzepte der „Humoralpathologie“ in der mittelalterlichen Medizin, welche auf den Traditionen von Hippokratesʼ Elementenlehre (Feuer, Wasser, Luft, Erde), dem griechischen Arzt Galenos von Pergamon (ca. 130 – 201 n. Chr.) sowie den Schriften des arabischen Arztes Avicenna aufbauten, bezogen sich auf hydraulikähnliche Vorstellungen von beständig interagierenden „Körpersäften“, wie Blut, Urin, Schweiß, Spucke, Galle, Samen, Milch, Schleim oder Eiter. Diese befänden sich in dauernd wechselnden Zuständen von Wärme und Kälte, sowie flüssigen oder stockenden Bewegungen. In der mittelalterlichen Medizin kamen weitere Aspekte der Temperamente, Sternzeichen und Planetenkonstellationen hinzu.

„L'Homme anatomique“ aus „Les Très Riches Heures du Duc de Berry“, zwischen 1411 und 1416 (Wikimedia Commons)
„L’Homme anatomique“ aus „Les Très Riches Heures du Duc de Berry“, zwischen 1411 und 1416 (Wikimedia Commons)

Wesentliche diagnostische Kriterien für die „gelehrten Ärzte“, welche oft auch theologisch-philosophisch geschult waren (sowie vor allem viele Bücher studiert und weniger Patienten gesehen hatten), waren, neben Urinschau (die Urinflasche war, als Uroskop, auch das Wahrzeichen der damaligen Ärzte) und dem Pulsfühlen, eine „ganzheitliche“ Betrachtung der meteorologischen oder astrologischen Eingebundenheiten der jeweiligen Patienten. Darauffolgende Beratungen, Verordnungen von polypharmakologischen Kräutermischungen, Packungen, Inhalationen, Infusionen und gezielten Aderlässe zum Purgieren (Reinigen) und zum Ausbalancieren der zirkulierenden „Körpersäfte“ waren die hauptsächlichen therapeutischen Prinzipien. Hinsichtlich der möglichen Placebo-Wirkungen von mittelalterlichen Heilungsversuchen spielt, neben dem generellen Glauben an die Seelenheilkunde, auch die Verwendung von besonderen, gelehrten Metaphern eine bedeutende Rolle. So stand beispielsweise der Begriff „Obstruktion“ oft stellvertretend für die unspezifische, medizinische Notwendigkeit von zu beseitigenden „Hindernissen, Blockierungen, Verstopfungen oder Hemmnissen“ der Körpersäfte, was wohl damals auch den nicht gebildeten Laien einleuchtete.

Neuere medizinische Forschungen taten sich unter dem Druck der Kirche lange Zeit schwer. So wurden zwar auch im schon im Mittelalter Leichenöffnungen von verstorbenen Straftätern zu Forschungszwecken erlaubt. De facto verliefen diese aber unter der Aufsicht eines gelehrten Arztes, welcher die theoretisch zu erwartenden Körperpathologien vorlas, und wurden durchgeführt von einem Chirurg-Barbier, der einen niedrigeren Status hatte und die  Diagnosen am verstorbenen Körper zu bestätigen hatte.

Praktische Laienhelfer und heilkundige Randgruppen
Medizinisch gebildete Ärzte waren weitgehend nur privilegierten Kreisen zugänglich. Im Volk, dessen Bildungsquellen weitgehend aus Predigten und Bildern bestanden, wurde Krankheit meistens als Folge von sündhaftem Verhalten erlebt. Krankheit galt im christlichen Verständnis häufig auch als Form von notwendiger Buße auf Erden. Zuständig für die praktische medizinische Versorgung und die körperliche Gesundheit des breiten Volkes waren bis zum 12. Jahrhundert die von der Kirche nur wenig geschätzten Chirurgen, Bader, Wundärzte, Barbiere, Hebammen und Kindsammen, Krankenpflegerinnen, Apotheker, Nonnen und Kräuterfrauen.

In diesem Zusammenhang sei auf die historisch unterschiedlich zu verstehende Problematik der „Scharlatanerie“ hingewiesen, was ich an anderer Stelle kommentiert habe. Nicht vergessen werden sollten einige fatale Prozesse oder gar auch Pogrome gegen weise Frauen während der „Hexenverbrennungen“, sowie auch die kollektiven Angriffe auf die angeblichen „jüdische Brunnenvergifter“ während der Pestepidemie.

Die alltäglichen Hilfstätigkeiten waren oft präventiver Art und spielten sich im inneren, häuslichen Milieu ab. Damals wurde paramedizinisches Wissen weitgehend mündlich weitergegeben. Im Zusammenhang mit der vorherrschenden Säftelehre bestand die heilkundige Vorbeugung im Wesentlichen in der notwendigen Verhinderung von Überschüssen oder Mangel an „Säften“, welches in vieler Hinsicht auch eine Frage der jeweiligen Speisen war. Deren Qualitäten konnten die „Säfte“ auch wärmen oder abkühlen, sowie ihre Bewegungen beschleunigen oder verlangsamen. Damit nahmen vor allem auch Frauen Einfluss auf die Gestaltung der allgemeinen Prävention. Ein weiterer Faktor war die Regulierung von Leidenschaften, wie Traurigkeit, Melancholie, überschießender Ärger oder starke Sehnsucht. Verordnet wurden in diesen Fällen besänftigende Mittel, wie angenehme Musik oder Düfte, Aufenthalte in der Natur, beruhigende Gespräche oder Geschichten. Auch hier wurde die meiste Arbeit von Frauen geleistet.

Den Chirurgen war es erlaubt mit Blut in Kontakt zu kommen, sie hatten gegenüber den Ärzten meist bessere anatomische und physiologische Kenntnisse, konnten Verrenkungen einrichten, Knochenbrüche behandeln, Geschwüre öffnen, Verletzungen und Wunden versorgen, Fisteln operieren und Hämorrhoiden behandeln und nicht zuletzt Geburten zu leiten.

Inwieweit die damaligen operativen Eingriffe, angesichts von mangelhaften Narkose- und Hygienemöglichkeiten oder Infektionsbekämpfung, auch manchmal an Foltermethoden grenzten, darüber rätseln die Mittelalter- und Medizinforscher weiterhin. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine Studie des Würzburger Medizinhistorikers Gundolf Keil, der 2006 schrieb, dass mittelalterliche Chirurgen möglicherweise schon eine Art von Penicillin zur Wundversorgung züchteten[4]

Kurze Nachbemerkung:
„ ‚Der‘ Körper in ‚dem‘ Mittelalter? (…) Wie die mittelalterlichen Theologen reden auch wir Historikerinnen und Historiker trotzdem gerne über Körper. Reden vom Körper ist Reden über Kontrolle, Ordnung und ihre Inszenierung“, schreibt der Historiker Valentin Groebner in dem Band „begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“. Wenn wir über „Körper“ von Königen, Adeligen, Priestern, Rittern, Bauern, Mägden oder Nonnen, von Frauen oder Männern, von Säuglingen oder Greisen sprechen, dann sprechen wir immer über mehr als nur deren allgemeine biologische Form und Konstitution.

Über „den Körper“ als allgemeines, biologisches Objekt zu sprechen, ergibt nur begrenzt und unter besonderen Umständen, wie etwa einer anstehenden medizinischen Notlage, Sinn. Der allgemeine Begriff wird nicht der unendlichen Vielfalt und Vielheit an Menschen gerecht, die mit und in einem solchen Körper leben. Das Wort Körper ist vom lateinischen „corpus“ (Fleisch am tierischen Körper, Leichnam) abgeleitet und wird erst ab dem 14. Jahrhundert als Begriff für die „lebende oder tote Form einer Person“ verwendet. Für das besondere, eigene Erleben des Körpers ist sicherlich der Begriff „Leib“ zutreffender, welcher von „Lib“, einem althochdeutschen Wort des 8. Jahrhunderts abgeleitet ist und so viel wie „Leben, Lebensweise“ bedeutet. Dieser Begriff wird im gängigen Sprachgebrauch aber meist nur für den „Leib Christi“ verwendet.

Sich mit den unterschiedlichen Menschen- und Körpervorstellungen des Mittelalters auseinanderzusetzen, kann deutlich mehr sein als nur die Vermehrung von akademischem oder bildungsbürgerlichem Wissen. Besser zu verstehen, darüber nachzudenken und zu hinterfragen, was unsere Vorfahren über sich gedacht haben, wie sie sich erlebt und verhalten haben, unter deutlich anderen Lebensumständen, dies kann dazu beitragen, ihnen mehr Respekt zu zollen. Manches von dem, was wir erfahren, kann auch für unser gegenwärtiges Leben von Bedeutung sein. Wie oft denken erkrankte Menschen auch heute darüber nach, ob und in welcher Art und Weise sie möglicherweise durch ihre (sicherlich nicht unbedingt im christlichen Sinne sündige) Lebensweise zu ihrer Situation beigetragen haben. Heute wird sich diese „Gewissenerforschung“ vielleicht weniger an religiösen Regeln, sondern eher an medizinisch-präventiven Erkenntnissen orientieren. Aber weder die Religionen noch die Medizin können sichere Vorhersagen treffen.


„begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2024. Insgesamt bietet der Band eine Reihe von spannenden Erweiterungen von Sichtweisen des mittelalterlichen Körpers.
Die Ausstellung „begehrt. umsorgt. gemartert. Körper im Mittelalter“ ist bis zum 14. Juli 2024 im Landesmuseum Zürich zu sehen.


15.3.2024

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