UNGEAHNTE WEITEN DES GESPÜRS

Ausschnitt aus dem Cover des Buches „Sentient. What animals reveal about our senses” von Jackie Higgins
Ausschnitt aus dem Cover des Buches „Sentient. What animals reveal about our senses” von Jackie Higgins

Spüren, empfinden, empfindsam sein, fühlen – wir erleben unser Sein in der (Mit-)welt durch unsere vielgestaltigen Sinne. Der Begriff „Sinn“, als die Fähigkeit Unterschiede zu bemerken und Reize zu empfinden, stammt von der indoeuropäischen Wurzel „sent“ ab, die „eine Richtung zu nehmen, gehen, reisen“ bedeutet. Solche „Richtungen“ finden sich in Redewendungen wieder, wie „etwas im Sinn haben“, „mir steht der Sinn nach etwas“, „etwas macht Sinn“, oder auch in Worten wie „Ansinnen“, „sinnvoll“ (zweckdienlich) oder „sinnlich“ (durch die Sinne geschehend). Diese sprachlichen Begriffe verweisen zugleich darauf, dass die Sinnesorgane lebendiger Wesen keine rein biologischen, neutralen, immer gleichen Objekte sind, sondern dass sie von persönlichen, biografischen, kulturellen oder situativen Einstellungen, Absichten oder Erinnerungen, als „Eigen-sinne“, mit beeinflusst werden. Nicht zuletzt verändern sich unsere Sinne immer wieder durch geschlechtliche, altersbedingte oder auch durch vernachlässigte oder gezielt eingesetzte, ernährungsbezogene Einflüsse. Sinnesreizungen, Körper- und Bewusstseinszustände bilden zusammenhängende, dynamische Funktionseinheiten.

Im ziellosen Flanieren durch die Welt bleiben die einzelnen Sinne jedoch, solange sie reibungslos funktionieren, meist unbemerkt und sind fast abwesend, solange sich keine ungewöhnlichen oder gar bedrohlichen Sinneseindrücke aufdrängen. Gefühle verändern die Aktionen der Sinnesorgane. Angst lenkt unsere „selektive Aufmerksamkeit“ auf andere Eindrücke als etwa die „rosarote Brille“ des Verliebtsein. Freudige Erregung „öffnet“ unsere Sinne, während erschöpfte Traurigkeit sie eher „schließt“. Angespannte Tonuserhöhung der Muskulatur oder des Nervensystems bedingen andere Wahrnehmungen z.B. der eigenen Herzaktion, als eine ruhige, ausgeruhte Atmosphäre in vertrauter Sicherheit. Durch meditative Übung von sensibler Achtsamkeit können Menschen lernen, sich absichtslos und gelassener der wechselnden Zustände ihrer Sinne mehr gewahr zu werden.

Leonardo da Vinci schrieb in seinen Tagebüchern, dass die meisten Menschen sehen, ohne zu schauen, hören, ohne zu lauschen, berühren, ohne zu fühlen, essen, ohne zu schmecken, sich bewegen, ohne körperlich gewahr zu sein, einatmen, ohne Gerüche oder Aromen wahrzunehmen und reden, ohne nachzudenken. Als Künstler und Naturforscher wollte er jedoch den tieferen Sinn dessen erforschen, was sich seinen Sinnen darbot, besser verstehen, was er spürte oder warum ihm etwas in den Sinn kam. Vom Maler Paul Klee ist der Satz überliefert, dass die Kunst nicht etwas nur „darstellen“ möchte, sondern dass es ihre Absicht sei, neue und unerwartete Zusammenhänge „sichtbar“ zu machen. Heute erforschen die Naturwissenschaften mit modernen, technologisch aufgerüsteten Geräten die Gesetzmäßigkeiten von vielen Phänomenen, welche sich den biologischen Sinnesorganen entziehen.

Der Gepard verfügt über einen besonderen Gleichgewichtssinn (Foto: flowcomm, Wikimedia)
Der Gepard verfügt über einen besonderen Gleichgewichtssinn (Foto: flowcomm, Wikimedia)

Manchmal stellt sich die Frage, wie weit auch nichtmenschliche Natur empfinden kann oder gar „denkt“. Der Botaniker Daniel Chamovitz fand in seinen Forschungen einige Gemeinsamkeiten der genetischen Ausrüstung, der interzellulären Kommunikation und der neuroaktiven Chemikalien zwischen Pflanzen und Menschen. Dies veranlasste ihn zu sagen, dass auch Pflanzen, als komplexe Organismen, „ein reiches, sinnliches Leben“ führen. Insbesondere aufgrund ihres stationären „Verwurzeltseins“ müssten Pflanzen „besonders sensible und komplexe Sinnesmechanismen entwickeln“, um in ihren wechselnden Umwelten überleben zu können. Pflanzen produzieren ebenfalls Hormone und Botenstoffe, um mit anderen Pflanzen zu kommunizieren und sich gegen potentielle Gefahren wehren zu können.

Zu welchen, außergewöhnlichen Leistungen die Sinnesorgane vieler Tiere in der Lage sind, darüber berichtet das neue Buch von Jackie Higgins: „Sentient. What animals reveal about our senses“. „Sentient“ leitet sich vom lateinischen „sentire“: „wahrnehmen, fühlen, empfinden“, geistig auch, “merken, sich bewusst werden, einsehen, verstehen“. Dabei nimmt uns die Autorin mit auf eine Erkundung darüber, wie wir die Welt um uns herum spüren, sehen, hören, schmecken oder tasten. Als ungewöhnliche Reiseführer dienen ihr dabei einige durchaus exotische Exemplare der Tierwelt, welche ausgeprägte Sinnesfähigkeiten zeigen. Es geht vielleicht weniger um die Exotik der dargestellten Tiere, als um das mögliche Potential, welches ihre Sinnesleistungen auch für andere (menschliche und technologische) Zwecke vermitteln könnten. (Der zunächst geplante Untertitel des Buches hieß bezeichnenderweise: „How animals illuminate the wonder of human senses“). Die Wissenschaftsjournalistin, Dokumentarfilmerin und Zoologin verweist in ihrer Einleitung darauf, dass sie mit Absicht die schwierige Frage eines eventuellen tierischen „Bewusstseins“ ausklammere. Unter „sentient“ versteht sie die gemeinsame Fähigkeit, die umgebende Welt aus einer eigenen Perspektive zu er-spüren, um für diese so geeignet und tauglich zu sein, um darin leben und überleben können.

Die vertraute Sichtweise der üblichen 5 Sinne, welche seit Aristoteles vorherrscht, wird von Jackie Higgins, wie von auch unterschiedlichen Forschungsrichtungen, in Frage gestellt. Sie hinterfragt auch, inwieweit die isolierte Betrachtung einzelner Sinnesorgane und -systeme im praktischen Leben Sinn ergibt. Wäre es nicht sinnvoller, Beeinflussungen, Wechselwirkungen und Zusammenwirken der Sinne integrativer zu erforschen und zu verstehen? Die Autorin kann wissenschaftliche Forschungen leicht verständlich für eine breitere Leserschaft erklären. Ihr Buch richtet sich an alle, welche sich für die Vielfalt der Natur interessieren, über diese mehr erfahren und staunen möchten oder sich für deren Schutz und Erhaltung einsetzen. Wenn sie im Buch etwa den Clown-Fangschreckenkrebs vorstellt, welcher die schnellste bekannte Schlagkraft- und geschwindigkeit zur Jagd im gesamten Tierreich aufweist, und von dessen ungewöhnlich facettierten, jeweils unterschiedlich wahrnehmenden Augen berichtet, die mit ihren Fotorezeptoren ein riesiges Spektrum an Lichtphänomenen wahrnehmen können, dann geraten die LeserInnen schon ins Staunen. Im Buch werden zudem jene ForscherInnen in ihren Motiven und Arbeitsweisen vorgestellt, welche zumeist mit außergewöhnlicher Leidenschaft und Ausdauer die Fähigkeiten dieser Tiere erkunden.

Der Bloodhound, den Jackie Higgins aufgrund seines eminenten Geruchssinns in den Mittelpunkt eines eigenen Kapitels stellt (Foto: Meagan, Wikimedia)
Den Bloodhound stellt Jackie Higgins aufgrund seines eminenten Geruchssinns in den Mittelpunkt eines eigenen Kapitels (Foto: Meagan, Wikimedia)

Jackie Higgins fragt bei allen exotischen Exkursen immer auch, welche möglichen Bedeutungen diese tierexperimentellen Forschungen für uns Menschen, unsere latenten Sinnesfähigkeiten oder eventuelle medizinische Behandlungen haben könnten. Sie stellt z.B. das Problem der Farbenblindheit dar, welches weiter verbreitet ist, als allgemein angenommen. Das menschliche Auge kann erstaunlicherweise mehrere Millionen Farbnuancen unterscheiden. Aber selbst dann, wenn die Biochemie und Neurobiologie des Sehvorgangs immer besser entschlüsselt werden, versteht die Wissenschaft bisher nur wenig, wie biophysikalische Aktivitäten von Nervenzellen zu inneren Erfahrungen werden, wie das materiell Greifbare der Forschung zum geistigen Ungreifbaren von eigenen Empfindungen wird. Eine weitere, erst seit kurzem entdeckte Fähigkeit des Sehsinns schildert die Autorin am Beispiel der Kreisspinne. Diese Tiere sind, was ihre Fähigkeiten zur Wahrnehmung von Bewegungen angeht, sehr sensibel. Äußerst bemerkenswert ist, dass sie allmorgendlich, noch in der Dunkelheit, ihre Netze immer wieder neu spinnen. Dabei spielen ihre „inneren Zeitgeber“, welche auf den wechselnden Sonnenstand der Jahreszeiten reagieren, eine besondere Rolle. Das mögliche Vorhandensein einer bislang unbekannten Gruppe von Zellen des Auges, die „fotosensitiven Ganglienzellen“, welche etwa nur 1-3 % der Netzhautzellen ausmachen und mit Hilfe von Melanopsin den Organismus über den Tag-Nacht-Rhythmus der Mitwelt informieren („circadianer Rhythmus“), wurde lange Zeit von der Medizin angezweifelt. 2017 wurde für die Entdeckung der „Körperuhr“ ein Nobelpreis in der Medizin vergeben. Heute wissen wir mehr darüber, wie groß der Einfluss dieser Taktgeber auf alle Organe und Gewebe, auf Gedächtnis, Konzentration und innere Unruhe, Immun- und Hormonsystem, usw. sind.

Higgins Buch enthält Berichte über weitere außerordentliche Fähigkeiten, wie den „Lichtsinn“ des Vieräugigen Gespensterfischs, der sich mit Hilfe von „Bioluminiszenz“ und einer sphärischen „Spiegelstruktur“, welche das Licht aus allen Richtungen sammelt und bündelt, auch in der völligen Dunkelheit der Meerestiefen eine Sicht für seine Nahrungssuche verschaffen kann, um sich anschließend wieder zu verstecken. Sie schildert die Möglichkeiten des Bartkauzes, dessen Hörsinn durch die riesigen, parabolartigen Federn rund um die Augen verstärkt werden, der auch im Alter kaum Hörverlust erleidet und der ein besonderes Federkleid besitzt, welches ihn lautlos durch die Lüfte segeln lässt.

Bartkauz. Foto: Olaf Oliviero Riemer, Wikimedia, Creative Commons
Bartkauz (Foto: Olaf Oliviero Riemer, Wikimedia)

In Zusammenhang mit dem Sternnasenmaulwurf, der mit den außerordentlich sensiblen Tastkegeln seiner Nasenfühler „sehen“ kann und als zugleich als der wohl „schnellste Killer“ im Tierreich gilt, verweist Higgins auf das ungewöhnliche Beispiel des von Geburt an blinden Malers Esref Amargan. Dieser hatte die Fähigkeit, nur mit Hilfe seines Tastsinns, ohne Sehkontrolle, naive, bunte Bilder von Szenen und Gegenständen zu malen. Das Gehirnareal seines Tastsinns war bei ihm mit seiner Sehrinde verschmolzen, was die ihn untersuchenden Wissenschaftler der Harvard Universität zu Spekulationen über einen möglicherweise angeborenen „Raumsinn“ veranlasste. Vielleicht, so merkte der Neurowissenschaftler Alvaro Pascual-Leone provokant an, sei unser Gehirn prinzipiell nicht nach einzelnen Sinnesqualitäten organisiert? Wir seien noch weit davon entfernt zu wissen, wie unser Gehirn wirklich funktioniere.

Die Vampirfledermäuse zeichnen sich u.a. durch einen besonders empfindsamen Tastsinn aus, dessen Berührungs- und Temperaturqualitäten zu ihrem Überleben beitragen. Zudem gehören sie zu den wenigen Tieren, welche, aus Gründen der Arterhaltung, ihre Nahrung auch mit fremden Jungtieren teilen, die nicht aus ihrer eigenen Brut stammen. Der Riesenkatzenfisch kann mit den unzähligen Geschmacksknospen auf seinen langen Fühlern und der sensiblen Berührungslinie an seinen Körperseiten, als eine Art „Superschmecker“ potentielle Nahrung schon auf größere Distanzen unter Wasser erspüren. Der eminente Geruchssinn von Bloodhounds oder anderen Hunden, welche Ertrunkene unter Wasser oder Verschüttete in über sieben Meter Schnee aufspüren, basiert auf dem stark gefalteten Riechepithel, das, in der Fläche ausgebreitet, den ganzen Körper des Hundes bedecken würde. Bei anderen Tieren, wie dem Großen Nachtpfauenauge, haben der Geruchsinn und die damit verbundenen Lockstoffe (Pheromone) eine, über Kilometer hinweg wirkende, Bedeutung für ihr Paarungsverhalten. Aber auch das menschliche Riechvermögen ist enorm. Damit können Menschen pflanzliche Duftstoffe besser riechen als die meisten Tiere.

Großes Nachtpfauenauge (Foto: Entomolo, Wikimedia, Creative Commons)
Großes Nachtpfauenauge (Foto: Entomolo, Wikimedia)

Der besondere Gleichgewichtssinn von Geparden ermöglicht diesen eine außerordentliche Wendigkeit bei der Jagd. Beim Menschen hat dieser, im Labyrinth des Innenohrs gelegene, oft unterschätzte Gleichgewichtssinn eine enorme Bedeutung dafür, dass auch Menschen in ihrem Bewegungsalltag „große Balancekünstler“ sind. Das faszinierende Körpergefühl der in alle Richtungen beweglichen Fangarme der Riesenkraken dient Wissenschaftlern auch als Studienobjekt für die Entwicklung von zukünftigen, besonders flexiblen „Weichkörper-Robotern“.

Die von Jackie Higgins ausgewählten Beispiele werfen eine andere Frage neu auf: Kann man zwischen Gehirn und Körper im Lebensvollzug eindeutige Grenzen ziehen? Die unterschiedlichen Umwelten, in denen diese Lebewesen angesiedelt sind, bieten ihnen und fordern von ihnen besondere Fähigkeiten der Anpassung für ihr Überleben. Das zunehmende Interesse an Sinnesorganen, deren Interaktionen, Korrespondenzen und Synergien, sowie ein wachsendes Verständnis der Veränderungsfähigkeiten des Gehirns (Neuroplastizität) verleihen den Inhalten dieses verständlich geschriebenen und gut lesbaren Buchs von Jackie Higgins besondere Aktualität. Wir entwickeln zudem neuen Respekt gegenüber diesen Lebewesen der Mitwelt auf unserem gemeinsamen Planeten. Ein anderer Pfad in die Zukunft, den Higgins im Buch streift, betrifft durch diese Tierstudien angeregte Erfindungen von neuen, technologischen Geräten, Apps oder Implantaten zur Substitution erkrankter Sinnesorgane oder zur Förderung von verstärkten („augmentierten“) menschlichen Fähigkeiten.

In seiner letzten Kolumne schrieb der Neurologe und Schriftsteller Oliver Sacks (1933–2015): „Above all Iʼve been a sentient being, a thinking animal, on this beautiful planet, and that in itself has been an enormous privilege and adventure“ (Oliver Sacks: My own life. In: New York Times, 19.2.2015). Er betonte damit die spür- und fühlbaren Verbindungen zur umgebenden Mitwelt. Das Buch von Jackie Higgins trägt dazu neues, interessantes Material bei, ist populärwissenschaftlich geschrieben und wendet sich an alle, die über die Vielfalt der Natur staunen und für deren Erhalt eintreten möchten.

Jackie Higgins: Sentient. What animals reveal about our senses. Picador, London, 2021

9.8.2021

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