Es war ein ganz besonderer Konzertabend, jener 18. August 1763, als im „Scharfischen Saal“, einem Veranstaltungsraum im Zentrum von Frankfurt am Main, zwei „Wunderkinder“ auftraten: die zwölfjährige Maria Anna oder, wie sie meist genannt wurde, „Nannerl“ Mozart und ihr siebenjähriger Bruder Wolfgang. Die Geschwister befanden sich gemeinsam mit ihren Eltern auf einer Tour durch Europa, die insgesamt dreieinhalb Jahre lang dauern sollte. Frankfurt war eine der ersten Stationen, und dort, wie auch überall sonst, begeisterte vor allem Wolfgang durch seine Virtuosität. Diese demonstrierte er nicht nur am Klavier, sondern auch mit der Violine und an der Orgel, und löste durch „die noch niemals in solchem Grade weder gesehene noch gehörte Geschicklichkeit“[1] große Begeisterung aus.
Das Publikum war sich wohl bewusst, einen genialen Künstler vor sich zu haben. Nicht wissen konnte es, dass sich im Saal noch ein weiterer junger Mann befand, der bald als Genie gefeiert werden sollte – nämlich Johann Wolfgang Goethe[2]. Der damals Vierzehnjährige war gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester Cornelia zum Konzert gekommen. Ob ihm die Musik, die er hörte, gefiel, ist nicht bekannt, beeindruckt aber war er offenbar von Mozarts Aussehen: „Ich erinnere mich des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen noch ganz deutlich“[3], berichtete er davon Jahrzehnte später im Gespräch mit Johann Peter Eckermann.
Das Konzert in Frankfurt war das einzige Mal, dass Goethe Mozart persönlich sah und hörte, die beiden sind einander niemals sonst begegnet. Mozart aber blieb jener Komponist, den Goethe am meisten schätzte. Als er von 1791 bis 1817 das Hoftheater in Weimar leitete, setzte er dort sehr oft Mozart-Opern auf den Spielplan. Ganz besonders liebte er die „Zauberflöte“, zu der er auch eine Fortsetzung schrieb. Das Libretto mit dem Titel „Der Zauberflöte zweiter Teil“[4] blieb allerdings ein Fragment, was vermutlich auch damit zu tun hatte, dass Goethe keinen Komponisten fand, der sich an die musikalische Weiterführung des Mozart-Werkes wagen wollte.
Während sich also Goethe intensiv mit dem Werk Mozarts auseinandersetzte und wiederholt auf ihn verwies (so etwa, wenn er meinte: „Eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist“[5]), sind von Mozart keine Äußerungen zu Goethe überliefert. Ganz anders ist dies bei Ludwig van Beethoven. Seit seiner Jugend verehrte Beethoven den 21 Jahre älteren Schriftsteller, komponierte „aus Liebe zu seinen Dichtungen, die mich glücklich machen“[6] die Bühnenmusik zu Goethes Drama „Egmont“ und vertonte eine ganze Reihe von Goethes Gedichten (Mozart hingegen nur ein einziges, „Das Veilchen“). Die Bewunderung war allerdings nicht gegenseitig, denn Goethe stand Beethovens Kompositionen distanziert gegenüber und wollte sich nicht auf deren künstlerische Radikalität und oft heftige Leidenschaftlichkeit einlassen.
Wie unterschiedlich die beiden Künstler waren, zeigte sich, als sie einander im Sommer 1812 im böhmischen Kurort Teplitz trafen. Goethe bekannte zwar, dass ihn Beethovens Talent „in Erstaunen gesetzt“ habe, doch sei der Komponist „leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht“[7].
Beethoven wiederum konnte mit Goethes Jovialität nichts anfangen und vor allem meinte er, dass der Schriftsteller gegenüber Persönlichkeiten höheren Standes eine allzu devote Haltung einnahm. So etwa vermerkte er in einem Brief an seinen Verlag Breitkopf und Härtel, dass Goethe „die Hofluft“ zu sehr behage, „mehr als einem Dichter ziemt“[8]. In Teplitz kam es dann auch zu jenem Zwischenfall, den Beethoven in einem Brief an die Schriftstellerin Bettina von Arnim so beschrieb:
„Wir begegneten gestern auf dem Heimweg der ganzen kaiserlichen Familie, wir sahen sie von weitem kommen, und der Goethe machte sich von meiner Seite los, um sich an die Seite zu stellen, ich mochte sagen, was ich wollte, ich konnte ihn keinen Schritt weiter bringen, ich drückte meinen Hut auf den Kopf, knöpfte meinen Oberrock zu und ging mit untergeschlagenen Armen mitten durch den dicksten Haufen – Fürsten und Schranzen haben Spalier gemacht, (…) die Frau Kaiserin hat gegrüßt zuerst. – Die Herrschaften kennen mich. – Ich sah zu meinem wahren Spaß die Prozession an Goethe vorbei defilieren. Er stand mit abgezogenem Hut tief gebückt an der Seite. Dann habe ich ihm noch den Kopf gewaschen, ich gab kein Pardon“[9].
Ob sich die Sache ganz so abgespielt hat, ist umstritten – fest steht, dass Beethoven und Goethe einander nach den wenigen gemeinsamen Spaziergängen im Teplitzer Kurpark nie wieder trafen. Beethovens Musik aber konnte sich Goethe nicht entziehen. Im Mai 1830 besuchte ihn der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy in Weimar und spielte ihm Werke verschiedenster Komponisten auf dem Klavier vor. Doch, so schilderte es Mendelssohn-Bartholdy in einem Brief: „An den Beethoven wollte er gar nicht heran; ich sagte ihm aber, ich könne ihm nicht helfen und spielte ihm nun das erste Stück der c-moll Symphonie vor. Das berührte ihn ganz seltsam. Er sagte erst: ‚Das bewegt aber gar nichts, das macht nur staunen; das ist grandios!‘ Und dann brummte er so weiter und fing nach langer Zeit wieder an: ‚Das ist sehr groß, ganz toll!“[10]
Beschrieben ist diese Begegnung zwischen dem 21-jährigen Mendelssohn-Bartholdy und dem fast 81-jährigen Goethe in dem Buch „Goethes Verhältnis zur Musik. Nichts kapiert und alles verstanden“, in dem sich die Germanistin und Musikwissenschaftlerin Dietlinde Küpper mit der in der Forschung häufig gestellten Frage auseinandersetzt, ob Goethe musikalisch war. Er selbst bekannte ja einmal: „Musik kann ich nicht beurteilen, denn es fehlt mir an Kenntnis der Mittel deren sie sich zu ihren Zwecken bedient“[11].
Ob nun Goethe tatsächlich „nichts kapiert“ oder doch „alles verstanden“ hatte, das untersucht Küpper in ihrem lesenswerten Buch in detailreicher Form. Da geht es unter anderem um den Einfluss von Johann Gottfried Herder, der Goethe veranlasste, Volkslieder zu sammeln; berichtet wird, wie Goethe bei seiner Italienreise die Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts kennenlernte; ein Kapitel ist natürlich der langjährigen Freundschaft mit dem Musiker Carl Friedrich Zelter gewidmet, ein anderes Goethes Verhältnis zur Musik von Komponisten der jüngeren Generation (von denen er, zum Beispiel, Felix Mendelssohn-Bartholdy sehr schätzte, sich für Franz Schubert, der immerhin 61 Goethe-Gedichte vertonte, kaum interessierte und die Musik Carl Maria von Webers „einfach nicht mochte“[12]).
Dietlinde Küppers Resümee lautet, dass Goethes Verhältnis zur Musik vor allem davon bestimmt war, dass er ein Augenmensch war. Zwar wusste er viel über Musik, wenn er sie aber hörte, verhielt er sich „recht unprofessionell. Denn er setzte sie allem Anschein nach innerlich in Bilder um, wie das Menschen tun, die daran nicht gewöhnt sind. Wer mit Musik vertrauter wird, beginnt nach und nach, sich direkt auf die Welt der Töne einzulassen, ohne das Gehörte stets mit einem passenden inneren Bild zu kombinieren. Viele verstreute Äußerungen Goethes lassen darauf schließen, dass er diesen Schritt nicht gemacht hat. (…) So war Goethes Zugang zur Musik im Grunde ein nicht-musikantischer; doch wenn er sich konzentrierte, nahm er vieles sehr genau wahr; bewies ein intuitives Gespür, ein zielsicheres Erfassen des Wesentlichen, mit dem er immer wieder versierte Musiker weit hinter sich ließ.“[13]
Dietlinde Küpper: Goethes Verhältnis zur Musik. Nichts kapiert und alles verstanden. Hamburg 2019. Auch als E-Book erhältlich.
[1] Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten, 30.8.1763.
[2] Der Schriftsteller wurde 1782 geadelt und hieß erst ab da „von Goethe“.
[3] Franz Deibel (Hg.): Goethes Gespräche mit Eckermann. Leipzig 1949, S. 515 (Gespräch vom 3.2.1830).
[4] Text von „Der Zauberflöte zweiter Teil“ im Projekt Gutenberg.
[5] Deibel (Hg.): Goethes Gespräche mit Eckermann, S. 584 (Gespräch vom 15.2.1831).
[6] Barbara Becker-Cantarino (Hg.): Bettina von Arnim Handbuch, Berlin 2019, S. 594.
[7] Max Hecker (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, Leipzig 1913, Bd 1, S. 328 (Brief vom 2.9.1812).
[8] Alfred Kalischer (Hg.): Beethovens sämtliche Briefe, Berlin u. Leipzig 1907, S. 94 (Brief vom 9.8.1812).
[9] Kalischer (Hg.): Beethovens sämtliche Briefe, S. 97f. (Brief von vermutl. 15.8.1812).
[10] Dietlinde Küpper: Goethes Verhältnis zur Musik. Nichts kapiert und alles verstanden, Hamburg 2019. S. 157 f.
[11] Küpper: Goethes Verhältnis zur Musik, S. 193.
[12] Küpper: Goethes Verhältnis zur Musik, S. 163.
[13] Küpper: Goethes Verhältnis zur Musik, S. 193ff.
18.1.2020