DAS WIENER ZINSHAUS

Foyer eines Hauses in der Wiener Neubaugasse, Architekten: Siegfried Theiss und Hans Jaksch, 1911/12. Foto (Ausschnitt): Nora Schoeller
Foyer eines Hauses in der Wiener Neubaugasse, Architekten: Siegfried Theiss und Hans Jaksch, 1911/12. Foto (Ausschnitt): Nora Schoeller

Prächtige Fassaden, praktische Grundrisse und solide ausgeführt, so präsentieren sich tausende Wiener Mietshäuser des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Sie prägen auf ihre Art das Gesicht der Stadt – und sie waren und sind von stadtgeschichtlicher, kultureller, architektonischer und auch ökonomischer Bedeutung. All dies ist Thema des Buches „Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole“, verfasst von Marion Krammer, Andreas Nierhaus und Margarethe Szeless. Sie erzählen die Geschichte dieses Gebäudetyps als komplexes Zusammenspiel von Architektur- und Sozialgeschichte, von Stadtentwicklung und ökonomischen Faktoren. Entsprechend illustriert wird der Band sowohl mit historischem Bildmaterial als auch aktuellen Aufnahmen von Fassaden, Foyers und Stiegenhäusern, fotografiert von Nora Schoeller.

Fassade an der Linken Wienzeile. Architekt: Rudolf Kmunke, 1896/97. Foto: Nora Schoeller
Fassade an der Linken Wienzeile. Architekt: Rudolf Kmunke, 1896/97. Foto: Nora Schoeller

„Bausteine der Großstadt“ heißt das erste Kapitel, in dem sich der Kunsthistoriker Andreas Nierhaus mit der Entwicklung der Wiener Mietshausarchitektur zwischen Vormärz und Ringstraßenzeit beschäftigt. Er verweist dabei auf einen wichtigen stadt- und sozialhistorischen Faktor – nämlich, dass Wien in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine der am dichtesten besiedelten Städte Europas war: „Auf einer Gesamtfläche von nur 1,4 Quadratkilometern drängte sich eine Wohnbevölkerung von mehr als 50.000 Menschen. Diese hohe und im Lauf der folgenden Jahrzehnte noch steigende Bevölkerungsdichte – sie übertrifft sogar jene heutiger Megacitys – sorgte für ein krasses Missverhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt und ließ die städtische Infrastruktur an ihre Grenzen stoßen.“ Der 1858 begonnene Abbruch der Stadtbefestigungen, der 1865 mit der Eröffnung der Ringstraße abgeschlossen wurde, war die notwendige Konsequenz. Damit war Raum für neuen Wohnbau geschaffen.

Die spektakuläre „Vogelschau von Wien“ von Erwin Pendl, entstanden 1903, steht doppelseitig am Beginn des Bandes „Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole“. Abbildung: Wien Museum / Online Sammlung, CC0

Der wichtigste „Vordenker der Stadterweiterung“ und „Erfinder“ des modernen Wiener Zinshauses war, so Andreas Nierhaus, Ludwig Förster (1797–1863). Der aus Bayreuth stammende Architekt, der ab 1818 in Wien tätig war, plante nicht nur viele Bauten (wobei sein Œuvre neben zahlreichen Wohn- und Geschäftshäusern auch Villen, Schulen, Fabriken, Brücken, Bäder und sakrale Gebäude umfasste), sondern er lieferte auch die fachlich-theoretische Grundlage für den modernen Mietshausstil. Es war die 1836 von Förster gegründete „Allgemeine Bauzeitung“, die, so Nierhaus, „bald zum einflussreichsten Fachblatt für Architektur und Ingenieurbau im deutschsprachigen Raum avancierte“: „Hier, auf den eng bedruckten Seiten und großformatigen Tafeln der Allgemeinen Bauzeitung, wurde innerhalb weniger Jahre das Wiener Zinshaus neu erfunden.“

Als Ludwig Förster ab den 1840er Jahren Wiener Wohnhäuser plante, nahm er sich vor allem die neuen, reich geschmückten und mit luxuriösen Wohnungen ausgestatteten Pariser Mietshäuser zum Vorbild. Ein markantes Beispiel für Försters Schaffen ist das 1844 erbaute Haus des Bankiers Pereira-Arnstein in der Renngasse in der Wiener Innenstadt. Bei dem Gebäude befanden sich im Erdgeschoß Geschäftslokale, Magazinräume und Kutschenremisen und in den vier darüberliegenden Stockwerken Mietwohnungen.

Fassade des Hauses Pereira-Arnstein, Architekt: Ludwig Förster, 1844. Abbildung: Allgemeine Bauzeitung, 1847, Planseite 128 (ÖNB Anno).
Fassade des Hauses Pereira-Arnstein, Architekt: Ludwig Förster, 1844. Abbildung: Allgemeine Bauzeitung, 1847, Planseite 128 (ÖNB Anno)

Ludwig Förster plante nicht nur Bauten für Bürgertum und Aristokratie, sondern er legte im Revolutionsjahr 1848 auch einen Entwurf für Arbeiterwohnhäuser vor. Als Bauplatz war ein Grundstück in der Leopoldstadt, dem 2. Wiener Gemeindebezirk, vorgesehen. Gebaut werden sollte, so schrieb Förster in der „Allgemeinen Bauzeitung“, „nach einer einfachen, jedoch soliden und feuersicheren Konstrukzion[!]“, vorgesehen war, dass „jede Familie einen eigenen Keller, ein großes Zimmer, eine Kammer, eine Küche, einen Abort [Toilette] und einen Bodenraum erhält“. Außerdem sollte es Einzelwohnräume für „ledige Personen“ geben, „Räume für Sonntagsschulen, eine Kinderbewahranstalt [Kindergarten bzw. Hort] und Arbeitssäle“, „eine Suppen- und Kochanstalt, eine Waschküche mit Mangelkammer und Trockenböden, während der nebenliegende Gartenraum zu einem Spiel- und Turnplatz für Kinder verwendet werden soll“ (Allgemeine Bauzeitung, 1849, S. 119). Es ist dies eine bemerkenswerte Vorwegnahme von Elementen des späteren sozialen Wohnbaus. Allerdings wurde Försters Projekt nach der Niederschlagung der Revolution fallen gelassen.

Kurz Biografisches zu Ludwig Förster: Auch seine beiden Söhne, Heinrich Förster (1832–1889) und Emil Förster (1838–1909) waren Architekten, und auch sie planten zahlreiche Wiener Mietshäuser. Ludwig Försters Schwiegersohn war der Architekt Theophil Hansen (1813–1891), dessen wohl berühmtester Bau das Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße ist. Hansen, mit dem gemeinsam Ludwig Förster von 1847 bis 1852 eine Ateliergemeinschaft bildete, plante aber auch zahlreiche Wohnhäuser und sollte in der Folge, so schreibt Andreas Nierhaus, Försters „Erbe als wohl einflussreichster Zinshausarchitekt Wiens antreten“.

Das von Ludwig Förster und Theophil Hansen gemeinsam entworfene „Freiherrl. v. Rieger‘sches Haus“, ein 1847–1849 errichtetes Wohn- und Geschäftshaus in der Wiener Innenstadt, Wollzeile 26 / Riemergasse 2. Abbildung: Allgemeine Bauzeitung 1852, Planseite 438 (ÖNB Anno)
Das von Ludwig Förster und Theophil Hansen gemeinsam entworfene „Freiherrl. v. Rieger‘sche Haus“, ein 1847–1849 errichtetes Wohn- und Geschäftshaus in der Wiener Innenstadt, Wollzeile 26 / Riemergasse 2. Abbildung: Allgemeine Bauzeitung 1852, Planseite 438 (ÖNB Anno)

Um den „Wiener Wohnungsmarkt und seine Macher“ geht es in jenem Kapitel des Buches über das Wiener Zinshaus, in dem sich die Kulturhistorikerin Marion Krammer mit den wirtschaftlichen Faktoren und damit auch den dunklen Seiten des Baubooms beschäftigt. „Eine preisgünstige und passende Wohnung zu finden war für einen großen Teil der Wiener Bevölkerung im 19. Jahrhundert alles andere als einfach“, so Krammer, denn: „Die Mietpreise konnten ohne jegliche Ankündigung und Begründung jederzeit nach oben korrigiert werden. Die Macht der Wiener Hausbesitzer:innen war groß und blieb es bis zur Einführung der ersten Mieterschutzverordnung im Jahr 1917.“ Krammer berichtet von den Arbeitsbedingungen auf den Baustellen und dem Elend der Ziegelarbeiter:innen, die bei kärglicher Entlohnung „täglich in 15-Stunden-Schichten schufteten, um die Materialien für die Prachtbauten der Ringstraße zu produzieren.“

Die Stadterweiterung und das rasante Anwachsen der Vororte führte zu einem starken Anstieg der Bodenpreise und zu einer maximalen Ausnutzung der vorhandenen Bauparzellen. „Welchen Einfluss das auf die Wohnqualität der Bewohner:innen hatte, ist bis heute an der Enge der Innenhöfe und den berüchtigten Lichthöfen ersichtlich“, so Marion Krammer: „Die Schattenseiten des rasanten Wachstums der Stadt zur Jahrhundertwende spiegelten sich in den zahlreichen Pressemeldungen zum Wohnelend in den ‚Zinskasernen‘ der Arbeiterviertel wider.“

Hofansicht eines Wohnhauses (Wiedner Hauptstraße 130, ehemals Matzleinsdorfer Straße 52), 1904. Fotograf: August Stauda. Wien Museum / Online Sammlung, CC0
Hofansicht eines Wohnhauses (Wiedner Hauptstraße 130, ehemals Matzleinsdorfer Straße 52), 1904. Fotograf: August Stauda. Wien Museum / Online Sammlung, CC0

In dem von der Kunsthistorikerin Margarethe Szeless verfassten Kapitel „Prachtfoyer, Stiegenhaus, Hinterhof“ geht es um das „Ankommen im Zinshaus“. Da begegnet man notgedrungen dem Hausmeister und kommt in den Innenhöfen an, „die eine wichtige Funktion im wirtschaftlichen und sozialräumlichen Gefüge der Stadt erfüllten, befanden sich doch dort Pferdeställe und Werkstätten“. Szeless erklärt auch den typisch wienerischen Begriff „Bassena“ als „eine (Kalt-)Wasserentnahme- und -entsorgungsstelle am Gang eines gründerzeitlichen Zinshauses. Sie war weit mehr als ein Ort des Wasserholens, kamen doch hier die Hausbewohner:innen zusammen und plauderten.“

Links: Abort und Bassena eines Hauses in der Sturzgasse / Rechts: Gang eines 1913/14 errichteten Hauses in der Siebensterngasse, Architekten: Oskar Czepka und Arnold Wiesbauer. Fotos: Nora Schoeller
Links: Abort und Bassena eines Hauses in der Sturzgasse / Rechts: Gang eines 1913/14 errichteten Hauses in der Siebensterngasse, Architekten: Oskar Czepka und Arnold Wiesbauer. Fotos: Nora Schoeller

Margarethe Szeless steigt dann in einem weiteren Kapitel auch noch auf die Dächer Wiens, findet dort „Trockenböden und Fotoateliers“ und verfasst schlussendlich den Epilog über „Das Wiener Zinshaus nach 1918“, wo sie erklärt, warum der Bau privater Zinshäuser fast ganz zum Erliegen kam und wie die aktuellen Debatten um den Ensembleschutz laufen und dass die sehr wohl eine breite Öffentlichkeit erreichen.

Dachlandschaft in der Lichtenfelsgasse. Foto: Nora Schoeller
Dachlandschaft in der Lichtenfelsgasse. Foto: Nora Schoeller

Fazit: Mit dem sehr lesenswerten Band „Das Wiener Zinshaus“ ist ein wertvoller Schritt in Richtung Verständnis für die komplexe Architektur- und Kunstgeschichte dieses spezifisch wienerischen Gebäudetypus gesetzt worden.

Marion Krammer, Andreas Nierhaus, Margarethe Szeless: Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole. Fotografien von Nora Schoeller. Residenz Verlag, Salzburg-Wien 2023.

4.5.2023

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