NÄHER ZU VERMEER

Johannes Vermeer: Die Spitzenklöpplerin. Um 1666/1668, Öl auf Leinwand, Musée du Louvre, Paris (links) / Mädchen mit dem Perlenohrring. Um 1664/1667, Öl auf Leinwand. Mauritshuis, Den Haag (rechts)

450.000 haben es geschafft: Sie haben Tickets für die große Vermeer-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum erhalten. Immerhin aber ermöglicht es das Katalogbuch auch allen anderen ,alles, was Vermeer so besonders macht, in Ruhe zu betrachten. Die 320 Seiten starke deutschsprachige Ausgabe ist im Belser Verlag erschienen, und was das Team rund um die renommierte Buchgestalterin Irma Boom geschaffen hat, erfüllt alle Wünsche, die man an so ein Werk herantragen kann. Ganz zu schweigen von den Texten der beiden Herausgeber, Pieter Roelofs – er ist der Leiter der Abteilung Malerei und Skulptur im Rijksmuseum – und Gregor J. M. Weber, der dort für die Bildende Kunst zuständig ist. Unterstützt wurden die beiden durch ein Team von Kurator*innen und Wissenschaftler*innen, die Auskunft über den aktuellen Wissensstand rund um den Maler Johannes Vermeer (1632–1675) geben.

„Näher zu Vermeer“ könnte das Motto der Ausstellung im Rijksmuseum lauten, meint Museumsdirektor Taco Ribbits im Vorwort, weil da „ungeahnte Einblicke in seine Kunst, seine Abwägungen und seine schöpferischen Ideen und Entscheidungen“ erlaubt werden. Und der Katalog eröffnet gleich einmal mit den Abbildungen aller 37 Gemälde, die derzeit Vermeer zugeschrieben werden. Die daran anschließende Biografie zeigt auf, aus welch einfachen Verhältnissen Vermeer kam, wie er sich zum Meistermaler hocharbeitete und – nachdem der Kunstmarkt durch den sogenannten Niederländisch-Französischen Krieg zusammenbrach – plötzlich mit 43 Jahren starb und seine Witwe mit elf Kindern zurückließ. In dieser Biografie kommen häufig die Ausdrücke „nicht belegt“, „möglicherweise“ und „lässt sich nicht genau sagen“ vor. Auch setzte Vermeers Nachruhm erst relativ spät, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein. Eine zentrale Persönlichkeit in Zusammenhang mit dieser Wiederentdeckung war der französischer Kunstkritiker Théophile Thoré, der den Ausdruck „Die Sphinx von Delft“ für Vermeer prägte, da kaum biografische Daten bekannt waren und auch die Sichtbarkeit der Werke begrenzt war.

Johannes Vermeer: Ansicht von Delft. 1660-1661, Öl auf Leinwand. Mauritshuis, Den Haag

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Familie und dem Haushalt des Delfter Malers. Grundlage dafür ist unter anderem ein Inventarverzeichnis, das nach dem Tod Vermeers erstellt wurde. Dann geht es um Vermeers Bilderwelt, wie er seine Figuren stilllebenartig darstellte, die Perspektive exakt beherrschte, optische Effekte wie Schärfe und Unschärfe genau beobachtete. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass zwischen den einzelnen Kapiteln die Details all dessen, was verbal behandelt wird, auch in einer wahren Bilderflut dokumentiert ist.

In dem mit „In die Stadt“ betitelten Kapitel geht es um die beiden Ansichten von Delft, die von Vermeer erhalten sind; in „Mit Abstand“ darum, wie er schaffte, Geheimnisvolles, das sich in einer abgeschiedenen Welt abspielt, in ein großes Gesamtgeschehen hineinzustellen; und in „Ganz Nah“ um seine Fähigkeit, Momente größter Introvertiertheit zu zeigen, wie zum Beispiel im „Milchmädchen“, der „Briefleserin in Blau“ oder der „Spitzenklöpplerin“.

Johannes Vermeer: Milchmädchen. 1658/1659, Öl auf Leinwand. Rijksmuseum Amsterdam. Ankauf mit Unterstützung der Rembrandt Association (links) / Briefleserin in Blau. Um 1662/1664, Öl auf Leinwand. Rijksmuseum Amsterdam. Leihgabe der Stadt Amsterdam, Nachlass A. van der Hoop (rechts)

„Vermeers Tronien“ (der Begriff „tronie“ bedeutete im Niederländischen des 17. Jahrhunderts „Kopf“ oder „Gesicht“) sind zumeist sehr ausdrucksstark, es sind keine Porträts realer Menschen, vielmehr waren da abstrakte Inhalte wichtig. Pieter Roelofs, der das Kapitel dazu verfasst hat, weist auf den „Gegensatz zwischen Vermeers extrovertierten Darstellungen mit Figuren, die explizit mit dem Betrachter in Kontakt treten und seinen extrem introvertierten Szenen“ hin. Da wird auch die Perle in „Das Mädchen mit dem Perlenohrring“ gezeigt und darauf hingewiesen, wie er „die Perle links oben mit einem scharfen Glanzlicht versah, während er an ihrem unteren Rand das weichgezeichnete Spiegelbild des weißen Kragens wiedergab.“ Das Buch gibt – im Gegensatz zur Ausstellung – die Gelegenheit, dieses Detail genau und so lange zu betrachten, wie es einem gefällt.

„Musikalische Versuchung“ trägt dem Rechnung, dass Vermeer in gut einem Viertel seiner überlieferten Werke Musikinstrumente abgebildet hat, und im Abschnitt „Briefe“ werden jene sechs Gemälde behandelt, in denen ein Brief eine Rolle spielt. „Die ganze Welt im Zimmer“ heißt es dann, wenn „Der Astronom“ und „Der Geograf“ vorgestellt werden.

Johannes Vermeer: Der Geograf. 1669, Öl auf Leinwand. Städel Museum, Frankfurt am Main (links) / Der Astronom. Um 1668, Öl auf Leinwand. Musée du Louvre, Paris (rechts)

Dem Gemälde „Die Malkunst“ und seiner einzigartigen Stellung im Werk Vermeers ist das letzte Kapitel des Buches gewidmet. Sabine Pénot, Kuratorin am Wiener Kunsthistorischen Museum, aus dessen Sammlung das Bild stammt, schreibt da von einer „Leichtigkeit und Poetik der Szene, die Stille und Innigkeit ausstrahlt.“ Und es wird auch erwähnt, dass der französische Impressionist Pierre-Auguste Renoir einzig und allein wegen dieses Gemäldes nach Wien kommen wollte.

Johannes Vermeer: Die Malkunst. Um 1666/1668. Kunsthistorisches Museum Wien. ©KHM-Museumsverband (CC BY-NC-SA 4.0)

Den Abschluss des Bandes bildet das Verzeichnis der Gemälde mit allen Provenienzen. Insgesamt stellt dieses Katalogbuch eine Annäherung an Vermeer dar, wie sie außerhalb der Ausstellung besser nicht hätte sein können.

Pieter Roelofs / Gregor J.M. Weber (Hg.): Vermeer. Belser Verlag, Stuttgart 2023.

11.3.2023

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