MICHELANGELO – „WAS EIN MENSCH VERMAG“

Michelangelo: Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle. Foto: Aaron Logan/Wikimedia Creative Commons
Michelangelo: Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle. Foto: Aaron Logan/Wikimedia Creative Commons

Der deutsche Kunsthistoriker Horst Bredekamp wollte, als er das Manuskript für sein Michelangelo-Buch abgab, gleich wieder von Neuem beginnen. Das lässt er in einer sehr persönlich gehaltenen Vorbemerkung wissen – und auch „dass dem Leser keineswegs ein abgeschlossenes Wissen aufbereitet, sondern vielmehr ein offenes Angebot gemacht wird, den Werkkreis Michelangelos neu zu durchdenken.“ Wenn sich Unbehagen über den Umfang einstellen sollte – immerhin sind es 816 großformatige Seiten – dann will Bredekamp diesem Unbehagen dadurch begegnen, „dass die einzelnen Kapitel auch für sich zu lesen sind.“

Michelangelos sogenannte „Römische Pietà“ im Petersdom. Foto: Jörg Bittner Unna/Wikimedia Creative Commons
Michelangelos sogenannte „Römische Pietà“ im Petersdom. Foto: Jörg Bittner Unna/Wikimedia Creative Commons

Gleich die erste Seite des Vorworts konfrontiert einen – am Beispiel der „Römischen Pietà“ – mit der Arbeitsweise Bredekamps. Man genießt es, wie er sein Wissen sprachlich umsetzt, einen auch dann mitnimmt, wenn es um tiefer Gehendes, Essentielles im Werk des Künstlers geht. So hinterfragt er, warum Michelangelo das lateinische „faciebat“, also „er machte“, als Signatur bei dieser Pietà aus den Jahren1498/99 setzte und nicht „fecit“, „er hat gemacht“. Die Bescheidenheitsgeste des Imperfekts wählte er, so erklärt Bredekamp, um anzuzeigen, dass das Werk noch nicht beendet sei, ja dass es unmöglich sei, „dieses überhaupt jemals fertigzustellen.“

Es ist in wissenschaftlichen Büchern unserer Breiten (ganz im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der Werke aus dem englischsprachigen Raum) eher selten, dass sie sich, so wie das vorliegende, durch eine Verbindung von Fachwissen – im konkreten Fall erworben in 40 Jahren leidenschaftlicher Forschung –, stilistischem Vermögen, sprachlicher Eleganz und Verständlichkeit auszeichnen. Apropos wissenschaftliche Werke im deutschen Sprachraum: Da muss natürlich Goethe zitiert werden: „Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff davon machen, was ein Mensch vermag.“

Michelangelo: Die „Delphische Sibylle“. Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle. Foto Wikimedia Commons
Michelangelo: Die „Delphische Sibylle“. Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle. Foto Wikimedia Commons

Einer der Grundsätze, denen Bredekamp bei der Gestaltung des Buches gefolgt ist, lautet, dass er seinen Blick „auf alle Kunstgattungen wie auch sämtliche Schaffensphasen Michelangelos als Geschichte der Werkformen und weniger des Lebens“ ausrichtet. Bredekamp ist nicht nur Kunsthistoriker, der sich in etwa dreißig Büchern und siebenhundert Aufsätzen mit dem gesamten Gebiet der Kunstgeschichte beschäftigt hat, sondern auch Bildwissenschaftler. In seiner „Bildakt-Theorie“ untersucht er die autonome Kraft des Bildes, mit welcher der Betrachter konfrontiert wird und so nicht nur bei seiner eigenen, subjektiven Wahrnehmung bleibt. Und um diese Kraft der Bilder geht es Bredekamp dann auch ganz besonders bei Michelangelo.

Michelangelo: Moses. Statue am Grabmal für Papst Julius II. in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom. Foto: Jörg Bittner Unna/Wikimedia Creative Commons
Michelangelo: Moses. Statue am Grabmal für Papst Julius II. in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom. Foto: Jörg Bittner Unna/Wikimedia Creative Commons

Von der „Madonna della Scala“, der „Treppenmadonna“, jenem Marmorrelief in der  Casa Buonarroti in Florenz, das Michelangelo als 16- bis 17-Jähriger schuf, bis zur Pietà Rondanini, die sich in Mailand befindet und an der er in mehreren Stufen bis an sein Lebensende gearbeitet hat, reicht der künstlerische Weg zum Ruhm, dem in den einzelnen Teilen des Buches nachgegangen wird. Dies hier detailliert darzustellen, ist natürlich nicht möglich. Wie könnte man auch ein derart umfangreiches Buch, in dem die Arbeit vieler Jahrzehnte steckt, in ein paar Sätzen abtun.

Wovon ich aber doch schreiben will, ist die Suggestivkraft, die Bredekamp bei seinen recht detaillierten Beschreibungen entwickelt und so seine „Bildakt-Theorie“ verfestigt. Er lässt einen so lange nicht los, bis man nicht all das gesehen hat, was er vorhat zu zeigen. Dazu kommen dann noch die bildlichen Darstellungen in einer hervorragenden Qualität. Als überaus positiv ist in diesem Zusammenhang auch zu vermerken, dass jeweils jenes Kunstwerk Michelangelos, welches gerade beschrieben wird, sei es nun ein Gemälde, eine Skulptur, ein Fresko oder ein Bauwerk, auch gleich in nächster Nähe zum Text abgebildet ist. Die Werke von Vorgängern werden an entsprechender Stelle genauso gezeigt, wie die der Zeitgenossen, wenn es darum geht, ähnliche Motive zu vergleichen. Abschließend soll noch festgestellt werden, dass die Aufteilung zwischen illustrierenden Bildern und vertiefenden Texten ideal gelöst ist und damit nun ein Werk über Michelangelo vorliegt, das seinem Gegenstand voll und ganz gerecht wird.

Horst Bredekamp: Michelangelo. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021.

27.11.2021

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