Von A wie Affe oder Adler bis zu Z wie Ziege oder Zebra: Das Alphabet zu kennen ist eine jener Grundkompetenzen, deren Erwerb in vielen Teilen der Welt am Beginn des schulischen Lernens steht. Allerdings ist die erste Auseinandersetzung mit den Schriftzeichen eine durchaus fordernde Aufgabe, und es gibt vielfältige Bemühungen, diesen Lernprozess möglichst zu erleichtern und kindgerecht zu gestalten. Eine lange Tradition haben dabei jene Abbildungen, bei denen den Buchstaben Bilder zugeordnet sind. Es sind Visualisierungen von Begriffen, die dem Erfahrungsschatz und dem Wissenstand der Kinder entsprechen, wobei meist der Anfangsbuchstabe die assoziative Verbindung zwischen dem Schriftzeichen und dem Begriff darstellt.
Im Vorwort zu seinem 1827 und nochmals 1832 in Leipzig veröffentlichten Buch „Kleines Bilder A. B. C.“ schrieb der Pastor und Pädagoge Christian August Leberecht Kästner: „Bilder sind gewiß ein vortreffliches Mittel, Kinder zur Buchstabenkenntniß und zum Lesen zu führen. Außerdem, daß sie ihnen mehr Lust machen, hiernach zu streben, weil sie bisher ganz in der Bilderwelt gelebt haben, lassen sich Figur, Name und Laut des Buchstabens auch leichter an einem Gegenstande ergreifen, dessen Name damit anfängt“.
Derart bebilderte Werke (im Deutschen als Fibeln oder ABC-Bücher bezeichnet) gab es ab dem 18. Jahrhundert in zahlreichen Sprachen und Ländern. Teilweise wurde die illustrierte Buchstabenreihe auch auf Einzelblättern publiziert (ähnlich den heutzutage beliebten ABC-Posters).
Unter den vielen illustrierten Fibeln, die seit dem 18. Jahrhundert erschienen sind, finden sich hin und wieder auch mehrsprachige Exemplare. Meist sind es zwei Sprachen, in denen die Begriffe wiedergegeben sind. Deutsch und Latein sowie Deutsch und Französisch waren dabei offenbar lange Zeit bevorzugte Kombinationen.
Ein besonderes Exemplar in dieser Kategorie der mehrsprachigen Bücher ist die 1848 in Wien publizierte, von Johann Baptist Hofstetter verfasste „Österreichische National-Bilderfibel“. Sie enthält bebilderte ABC-Seiten und Geschichten in den Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Kroatisch, Latein, Polnisch, Tschechisch und Ungarisch. Die Begriffe zu den einzelnen Illustrationen finden sich auf den Bildseiten jeweils nur in einer Sprache, wie sie in den anderen lauten, ist dann auf der Folgeseite zu erfahren.
Bis heute gehören die ABC-Bücher zu den Standardpublikationen im Kinderbuchbereich. Natürlich hat sich die grafische Gestaltung immer wieder, entsprechend den jeweiligen ästhetischen Vorlieben, verändert, und lange Zeit waren bei weitem nicht alle Bücher farbig illustriert. Vor allem jene Fibeln, die nicht für die private Nutzung gedacht waren, sondern als Schulbücher dienten, waren – aus Kostengründen – bis ins 20. Jahrhundert meist nur mit einfarbigen Bildern ausgestattet.
Bär, Biene oder Blume für B, Kamel, Katze, Kerze oder Kuh für K, Reh oder Rose für R, Taube oder Tiger für T – das sind einige jener zahlreichen Standardkombinationen, die in den ABC-Büchern immer wieder auftauchen. Doch es gibt auch einige Schriftzeichen, bei denen sich nicht allzu viele passende Begriffe finden lassen. Im Deutschen sind dies X und Y. Heutzutage ist bei Y oft ein Yak abgebildet und bei X ein Xylophon. Manchmal findet sich bei X aber auch nur der Spruch „Bei X gibt’s nix“. Ähnlich ist es in dem 1845 in Leipzig erschienenen „ABC-Buch für kleine und große Kinder“. Zu einer von Theobald von Oer gestalteten Zeichnung reimte Robert Reinick: „Und stellst du auf den Kopf dich schon, / Du findest nichts auf Ypsilon!“.
In dem 1820 in Wien erschienenen „Neuen ABC-Buch mit 24 sinnvollen und lehrreichen Bildern für gute Kinder“ löste der Verfasser, F. Josephinus, das XY-Problem mit den Wörtern „Xanthium“, „Ysop“ und „Yvo“.
Auch heutzutage würden Kinder wohl sehr schnell darauf kommen, dass es sich bei Yvo um den auf dem Bild dargestellten Knaben handelt. Mit Ysop und vor allem mit Xanthium aber hätten sie vermutlich – trotz der fein gestalteten Grafik – größere Verständnisschwierigkeiten. Ysop mögen manche als Gewürzkraut kennen, doch dass es sich bei Xanthium um eine Spitzklette handelt, ist wohl nur Expertenwissen. Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch scheinen die beiden Pflanzen so bekannt gewesen zu sein, dass ihre Namen als Merkhilfen für die Schriftzeichen geeignet waren.
In vielen Fibeln gibt es zusätzlich zu den Schriftzeichen und Einzelbegriffen auch kurze Gedichte, Geschichten und allgemeine Erläuterungen zu den Illustrationen. Zum Beispiel, wenn bei Q (heutzutage im Deutschen oft mit dem Bild einer Qualle versehen) Quäker abgebildet sind – was vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts erstaunlich oft der Fall ist.
Im „Neuen ABC-Buch mit 24 sinnvollen und lehrreichen Bildern für gute Kinder“ ist zur Abbildung zu lesen: „Hier werden euch, liebe Kinder, zwey Männer in die Augen fallen, die mit ernsten Gesichtern und nieder geschlagenen Augen einher schreiten. Man nennt sie Quäker. Sie wohnen nicht unter uns, sondern größtentheils in England, Holland, am häufigsten aber in Nord-Amerika.“ Die Mitglieder dieser Glaubensgemeinschaft seien, so erfahren die Kinder, „sehr gute, friedliche und wohlthätige Menschen, wohlthätig selbst gegen fremde Religionsgenossen. Ihr Fleiß, ihre Redlichkeit und Ordnungsliebe, die Einfachheit ihrer Lebensart, und der Ernst in ihrem Betragen haben ihnen die öffentliche Achtung erworben.“
Aus der Gestaltung der Fibeln lassen sich pädagogische Intentionen, gesellschaftliche Entwicklungen, politische Bedingungen und ideologische Ausrichtungen ablesen. So etwa, wenn das 1825 in Wien erschienene „Neueste ABC Buch in bildlichen Darstellungen für die Jugend zum Nutzen und Vergnügen“ mit der „Andacht“ beginnt und erst dann der „Apfelbaum“ folgt.
Aus heutiger Sicht bedrückend wirkt es, wenn im „Neuen ABC-Buch mit 24 sinnvollen und lehrreichen Bildern für gute Kinder“ aus dem Jahr 1820 als beispielhafte Figuren beim Buchstaben O zwei Offiziere abgebildet sind, die als „Obrigkeit“ für den Zugang zu einem Ort entsprechende Dokumente fordern. Eher erheiternd hingegen ist es, dass im Leipziger „ABC-Buch für kleine und große Kinder“ 1845 als Illustration für Q der Quacksalber – gezeichnet von Ludwig Richter – gewählt wurde.
Alte Fibeln liefern ein buntes Bild vom Leben in jener Zeit, in der sie entstanden sind. So etwa, wenn es um jene Angehörigen verschiedenster – heute teilweise nicht mehr existenter – Berufsgruppen geht, die als so typisch angesehen wurden, dass man sie als beispielhaft in die ABC-Bücher aufnahm.
ABC-Bücher sind also nicht nur in ihrer grafischen Gestaltung attraktive Dokumente zur Geschichte der Pädagogik, sondern auch, allgemein betrachtet, aufschlussreiche Materialien zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte.