EIN JUCHEE IM PARADIES?

Hippolyte Michaud (1823–1886): Theaterpublikum (Rijksmuseum Amsterdam, CC0 1.0)

„Ich bin diesmal auf dem Juchee gesessen“, berichtet die theaterbegeisterte Freundin und löst damit einige Verwirrung aus. Juchee? Was soll das denn sein? Sie war im Wiener Burgtheater gewesen. Aber wo gibt’s da ein Juchee?

Das kann schnell beantwortet werden: Als Juchee[1] wird im Wienerischen der höchstgelegene Sitzbereich in einem Theater bezeichnet. Etwas schwieriger wird es bei der Frage, woher denn dieser kuriose Ausdruck komme. Das „Wörterbuch der Wiener Mundart“ erklĂ€rt, das Juchee sei eine „hoch gelegene Stelle, von der aus man einen jauchzenden Schrei ausstoßen könnte“.[2] Auch der Duden sieht einen möglichen Zusammenhang mit einem Jauchzen und verwendet daher die Schreibung „Juchhe“. Das Juchhe sei „wohl nach den oft lautstarken Beifalls- oder MissfallensĂ€ußerungen des meist anspruchsloseren Publikums, das frĂŒher auf der Galerie saß“ benannt.[3]

Da meldet sich sofort einiger Widerspruch. Dieser ist zunĂ€chst nicht etymologisch motiviert, sondern richtet sich gegen die Klassifizierung des Galeriepublikums als „anspruchsloser“. Das Gegenteil sei doch der Fall: dort oben, im „Olymp“ (auch das eine der Bezeichnungen fĂŒr die höheren Bereiche im Theatersaal) sitzen doch meist die wirklich Anspruchsvollen. Dann kommt auch noch ein etymologischer Einwand mit Verweis auf das Französisch-Wörterbuch. Denn im Französischen bedeutet „juchĂ©â€œ, dass sich etwas „hoch oben“ befinde.[4] Das klingt als ErklĂ€rung durchaus plausibel, wenn man bedenkt, wie hoch TheatersĂ€le vor allem frĂŒher oft waren. Zum Beispiel im alten Wiener Burgtheater, dessen Innenraum Gustav Klimt 1888 gemalt hat.

Gustav Klimt: Zuschauerraum im Alten Burgtheater, 1888 (Wien Museum, Online Sammlung. Foto: Birgit und Peter Kainz)

Das Juchee, im Alten Burgtheater der vierte Rang, war tatsĂ€chlich ziemlich „hoch oben“, und es mag sein, dass von da aus hin und wieder jemand ein begeistertes „juchhe“ gerufen hat. Die ĂŒblichen verbalen Beifalls- und Missfallenskundgebungen im Theater waren und sind allerdings andere. Bravorufe oder krĂ€ftiges Buhen ertönen wohl am hĂ€ufigsten. Insgesamt aber ist der LautstĂ€rkepegel heutzutage wesentlich niedriger als frĂŒher, als das Publikum, wenn ihm etwas nicht gefiel, gewaltigen Krach machte. Mancherorts wurde dagegen mit Strafandrohungen vorgegangen. So etwa hieß es in der am 8. Mai 1775 erlassenen „Theaterordnung“ der Wiener Hoftheaterbehörde, „daß nicht nur das Pfeifen (
), sondern auch das Stoßen mit FĂŒĂŸen, Stoßen und Schlagen mit Stecken auf den Fußboden, BĂ€nke und WĂ€nde (
) von nun an dergestalt verboten sei, daß der Entgegenhandelnde (
) von der vorhandenen Wache angehalten und aus dem Theater abgeschafft oder wohl gar gefĂ€nglich eingebracht und wider selben die schĂ€rfste Bestrafung verhĂ€ngt werden solle“[5].

Vor allem wurde, wenn dem Publikum das auf der BĂŒhne Gebotene missfiel, krĂ€ftig gezischt. An etlichen BĂŒhnen wurde deshalb ein „Zischverbot“ verhĂ€ngt, so etwa 1891 im Stuttgarter Hoftheater[6] und 1892 im MĂŒnchner Hoftheater[7]. Als 1895 der Wiener Hofoperndirektor Wilhelm Jahn ebenfalls ein Zischverbot forderte, setzte eine vehemente Diskussion ĂŒber „das Recht, zu zischen“[8] ein. Auch der Dramatiker Hermann Bahr meldete sich dazu zu Wort und meinte, „dass das Zischen zum Wesen der BĂŒhne gehört“, dass es „nur die andere Seite des Klatschens ist“. Es gehe um das Urteil des Publikums ĂŒber ein StĂŒck: „Der Klatschende sagt Ja, wer schweigt, stimmt ihm zu, um Nein zu sagen, muss man zischen.“[9]

In Frankreich war man offenbar nicht so streng, wenn es um die Missfallenskundgebungen des Theaterpublikums ging. Derartiges sei dort, so berichtete 1842 das „Allgemeine Theater-Lexikon“, „an der Tagesordnung“. Es werde „auf hohlen SchlĂŒsseln oder eigens dazu gebrĂ€uchlichen Pfeifen erbarmungslos gepfiffen und die Polizei lĂ€ĂŸt die Pfeifenden gewĂ€hren. Ganz offen verkaufen Colporteure, welche das gedruckte StĂŒck, Lorgnetten u. dergl. in den Theatern feilbieten, auch die Pfeifen.“[10] Auch lautes Gackern und KrĂ€hen gehörte in französischen Theatern zu bevorzugten akustischen MissfallensĂ€ußerungen, die vornehmlich von den obersten RĂ€ngen herab ertönten. Deshalb – und auch weil es dort oben meist sehr eng ist – wird dieser Bereich des Theaterraums bis heute auch „poulailler“ – „HĂŒhnerstall – genannt.[11]

Hippolyte BellangĂ© (1800–1866): Spectacle gratis (© Victoria and Albert Museum, London)

„Es gab damals nur zwei PlĂ€tze im Theater, die fĂŒr einen SchĂŒler in Betracht kamen: das Stehparterre, an der hintersten Wand, und, etwas spĂ€ter, die Galerie, die wir auch den ‚Olymp‘ oder die ‚Bullerloge‘ nannten, womit in der Sprache meiner Heimat alles Notwendige ausgedrĂŒckt ist.“[12] So schrieb der Schriftsteller Ernst Wiechert ĂŒber einen Besuch des Stadttheaters von Königsberg (Kaliningrad) im Jahr 1898. Wiechert war damals zwölf Jahre alt, und wenn er auf die „Sprache seiner Heimat“ verweist, so meint er damit das Deutsch, so wie es in Ostpreußen gesprochen wurde. Da bedeutete das Wort „bullern“ „poltern, stark klopfen“[13], und die „Bullerloge“ definierte das „Preussische Wörterbuch“ als „Loge, in der gebullert, gepoltert wird, die Gallerie [!] im Theater, als der unruhigste Platz.“[14] Damit entsprach sie dem, was in Berlin bis heute und meist ironisch als „Trampelloge“ bezeichnet wird.

Henry Monnier: Un Paradis, um 1828 (British Museum, CC BY-NC-SA 4.0)

Hoch oben, da mag das Paradies sein – und so passt auch dieser Ausdruck fĂŒr den Platz aller Theaterbegeisterten. Im Deutschen findet er sich ebenso wie im Französischen, wo er auch in die Filmgeschichte eingegangen ist: „Les Enfants du paradis“ heißt ein 1945 unter der Regie von Marcel CarnĂ© und nach einem Buch von Jacques PrĂ©vert gedrehter Film. Der Streifen mit Arletty, Jean-Louis Barrault und Pierre Brasseur in den Hauptrollen spielt im Pariser Theatermilieu Mitte des 19. Jahrhunderts, einer der zentralen SchauplĂ€tze ist das Pariser „Théùtre des Funambules“. FĂŒr den Film wurde das 1862 abgerissene GebĂ€ude rekonstruiert, und immer wieder ist im Verlauf der Handlung das Publikum auf den obersten RĂ€ngen des Theaters zu sehen. Denn es war „PrĂ©verts Lieblingspublikum, das wahre Publikum, jenes, das reagiert, jenes, das teilnimmt“[15], vermerkt dazu die PrĂ©vert-Biografin Carole Aurouet.

Anon.: Das Paradies im Theatre des Funambules. In: Illustrirte Zeitung. Leipzig, 4.11.1843, S. 297.

„Les Enfants du paradis“ – 1947 fĂŒr einen Oscar, Kategorie „Original Screenplay“, nominiert – heißt in der englischen Fassung „Children of Paradise“, was allerdings wenig aussagekrĂ€ftig ist. Denn im Englischen ist nicht davon die Rede, dass man im Theater hoch oben im Paradies sitze, sondern „in ‚The Gods‘“. Der Filmtitel wĂ€re also eher – so wie 1947 in einer Besprechung in der „New York Times“[16] – mit „Children of the Gods“ zu ĂŒbersetzen. Der Titel der deutschsprachigen Fassung des Filmes lautet ĂŒbrigens „Kinder des Olymp“. Bei den Göttern zu sitzen verweist auf die Höhe, der Ausdruck (im Londoner Theaterleben seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar) wird aber auch damit erklĂ€rt, dass die Decken vieler Theater mit mythologischen Szenen bemalt waren[17].

PopulĂ€r ist im englischsprachigen Raum auch die Bezeichnung „Peanut Gallery“ – „Erdnuss Galerie“. Es heißt, sie sei darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass ErdnĂŒsse stets der billigste Snack am Theaterbuffet waren und daher auch vom Publikum oben auf den kostengĂŒnstigen PlĂ€tzen gerne genossen – oder als Missfallenskundgebung auf die BĂŒhne geschossen wurden.[18] Im ĂŒbertragenen Sinn – als „öffentliche Meinung – wird „peanut gallery“ auch heutzutage oft verwendet. So etwa schrieb die Londoner „Sunday Times“ in Zusammenhang mit dem RĂŒcktritt der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon, viele Leute seien „too intimidated by the barrage from the peanut gallery to voice their true opinions“[19] („zu sehr eingeschĂŒchtert durch das Trommelfeuer von der Peanut Gallery, um ihre wahre Meinung zu Ă€ußern“).

„Juchhe“ kann da wohl nicht gerufen werden – auch nicht vom „Juchee“ herab.


[1] Schreibung gemĂ€ĂŸ: Österreichisches Wörterbuch. Wien 1990, S. 263.
[2] Hornung, Maria: Wörterbuch der Wiener Mundart. Wien 1998, S. 486.
[3] Duden online, Stichwort „Juchhe“, www.duden.de (abgerufen 7.3.2023).
[4] Langenscheidts Großes Schulwörterbuch Französisch-Deutsch, Berlin u. MĂŒnchen 2001, S. 749.
[5] Bermann, Moritz: Das illustrirte Geschichtenbuch vom Kaiser Josef. Wien, um 1882, S. 513.
[6] Signale fĂŒr die musikalische Welt. Leipzig, August 1891, Heft 45, S. 2.
[7] s. Die Presse. Abendblatt. Wien, 20.2.1892, S. 2.
[8] Z.B. Wiener Allgemeine Zeitung. 15.10.1895, S. 5. // Wiener Theater-Zeitung. 1.1.1898, S. 5.
[9] Bahr, Hermann: Zischen. In: Die Zeit, Wien, 19.10.1895, S. 43.
[10] Blum, Robert u.a. (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder EncyklopĂ€die alles Wissenswerthen fĂŒr BĂŒhnenkĂŒnstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Altenburg u. Leipzig, 1842, Bd 6, S. 86.
[11] Rigaud, Lucien: Dictionnaire d’argot moderne. Paris 1881, S. 310 (“Poulailler: parce que le public des petits théùtres se plaĂźt Ă  imiter parfois les cris de certains animaux et principalement le chant du coq.”). // Pougin, François Auguste Arthur P.: Dictionnaire historique et pittoresque du theĂątre et des arts qui s’y rattachent. Paris 1885, S. 582 („poulailler, sans doute parce que, le nombre des places n’y Ă©tant pas limitĂ©, les spectateurs de cette rĂ©gion Ă©taient serrĂ©s comme poules dans un polailler“).
[12] Wiechert, Ernst: „Du holde Kunst“ In: Ernst Wiechert: WĂ€lder und Menschen. Eine Jugend. MĂŒnchen 1936. Online: https://www.projekt-gutenberg.org/wiechert/waelder/titlepage.html (abgerufen 7.3.2023).
[13] Frischbier, Hermann: Preussisches Wörterbuch. Ost- und Westpreussische Provinzialismen in alphabetischer Folge. Berlin 1881, Bd 1, S. 117. Online: https://dlibra.bibliotekaelblaska.pl/dlibra (abgerufen 7.3.2023).
[14] Ebenda.
[15] „C’est le public prĂ©fĂ©rĂ© de PrĂ©vert, le vrai public, celui qui rĂ©agit, celui qui participe“. Aurouet, Carole: Jacques PrĂ©vert, portrait d’une vie. Paris 2007. S. 239.
[16] Crowther, Francis Bosley: ‘Les Enfants du Paradis’. Film From France. In: New York Times, 20.2.1947.
[17] Vgl. Idiom Origins https://idiomorigins.org/origin/up-in-the-gods (abgerufen 7.3.2023).
[18] Siehe z.B.: Parry, Becky u.a. (Hg.): Literacy, Media, Technology. Past, Present and Future. London 2017, S. 33. // Heim, Caroline: Audience as Performer. London, 2016, S. 59.
[19] Bowditch, Gillian: Eight years through the wringer for a failed vision. In: The Sunday Times, 19.2.2023.

7.3.2023

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