
âIch bin diesmal auf dem Juchee gesessenâ, berichtet die theaterbegeisterte Freundin und löst damit einige Verwirrung aus. Juchee? Was soll das denn sein? Sie war im Wiener Burgtheater gewesen. Aber wo gibtâs da ein Juchee?
Das kann schnell beantwortet werden: Als Juchee[1] wird im Wienerischen der höchstgelegene Sitzbereich in einem Theater bezeichnet. Etwas schwieriger wird es bei der Frage, woher denn dieser kuriose Ausdruck komme. Das âWörterbuch der Wiener Mundartâ erklĂ€rt, das Juchee sei eine âhoch gelegene Stelle, von der aus man einen jauchzenden Schrei ausstoĂen könnteâ.[2] Auch der Duden sieht einen möglichen Zusammenhang mit einem Jauchzen und verwendet daher die Schreibung âJuchheâ. Das Juchhe sei âwohl nach den oft lautstarken Beifalls- oder MissfallensĂ€uĂerungen des meist anspruchsloseren Publikums, das frĂŒher auf der Galerie saĂâ benannt.[3]
Da meldet sich sofort einiger Widerspruch. Dieser ist zunĂ€chst nicht etymologisch motiviert, sondern richtet sich gegen die Klassifizierung des Galeriepublikums als âanspruchsloserâ. Das Gegenteil sei doch der Fall: dort oben, im âOlympâ (auch das eine der Bezeichnungen fĂŒr die höheren Bereiche im Theatersaal) sitzen doch meist die wirklich Anspruchsvollen. Dann kommt auch noch ein etymologischer Einwand mit Verweis auf das Französisch-Wörterbuch. Denn im Französischen bedeutet âjuchĂ©â, dass sich etwas âhoch obenâ befinde.[4] Das klingt als ErklĂ€rung durchaus plausibel, wenn man bedenkt, wie hoch TheatersĂ€le vor allem frĂŒher oft waren. Zum Beispiel im alten Wiener Burgtheater, dessen Innenraum Gustav Klimt 1888 gemalt hat.

Das Juchee, im Alten Burgtheater der vierte Rang, war tatsĂ€chlich ziemlich âhoch obenâ, und es mag sein, dass von da aus hin und wieder jemand ein begeistertes âjuchheâ gerufen hat. Die ĂŒblichen verbalen Beifalls- und Missfallenskundgebungen im Theater waren und sind allerdings andere. Bravorufe oder krĂ€ftiges Buhen ertönen wohl am hĂ€ufigsten. Insgesamt aber ist der LautstĂ€rkepegel heutzutage wesentlich niedriger als frĂŒher, als das Publikum, wenn ihm etwas nicht gefiel, gewaltigen Krach machte. Mancherorts wurde dagegen mit Strafandrohungen vorgegangen. So etwa hieĂ es in der am 8. Mai 1775 erlassenen âTheaterordnungâ der Wiener Hoftheaterbehörde, âdaĂ nicht nur das Pfeifen (âŠ), sondern auch das StoĂen mit FĂŒĂen, StoĂen und Schlagen mit Stecken auf den FuĂboden, BĂ€nke und WĂ€nde (âŠ) von nun an dergestalt verboten sei, daĂ der Entgegenhandelnde (âŠ) von der vorhandenen Wache angehalten und aus dem Theater abgeschafft oder wohl gar gefĂ€nglich eingebracht und wider selben die schĂ€rfste Bestrafung verhĂ€ngt werden solleâ[5].
Vor allem wurde, wenn dem Publikum das auf der BĂŒhne Gebotene missfiel, krĂ€ftig gezischt. An etlichen BĂŒhnen wurde deshalb ein âZischverbotâ verhĂ€ngt, so etwa 1891 im Stuttgarter Hoftheater[6] und 1892 im MĂŒnchner Hoftheater[7]. Als 1895 der Wiener Hofoperndirektor Wilhelm Jahn ebenfalls ein Zischverbot forderte, setzte eine vehemente Diskussion ĂŒber âdas Recht, zu zischenâ[8] ein. Auch der Dramatiker Hermann Bahr meldete sich dazu zu Wort und meinte, âdass das Zischen zum Wesen der BĂŒhne gehörtâ, dass es ânur die andere Seite des Klatschens istâ. Es gehe um das Urteil des Publikums ĂŒber ein StĂŒck: âDer Klatschende sagt Ja, wer schweigt, stimmt ihm zu, um Nein zu sagen, muss man zischen.â[9]
In Frankreich war man offenbar nicht so streng, wenn es um die Missfallenskundgebungen des Theaterpublikums ging. Derartiges sei dort, so berichtete 1842 das âAllgemeine Theater-Lexikonâ, âan der Tagesordnungâ. Es werde âauf hohlen SchlĂŒsseln oder eigens dazu gebrĂ€uchlichen Pfeifen erbarmungslos gepfiffen und die Polizei lĂ€Ăt die Pfeifenden gewĂ€hren. Ganz offen verkaufen Colporteure, welche das gedruckte StĂŒck, Lorgnetten u. dergl. in den Theatern feilbieten, auch die Pfeifen.â[10] Auch lautes Gackern und KrĂ€hen gehörte in französischen Theatern zu bevorzugten akustischen MissfallensĂ€uĂerungen, die vornehmlich von den obersten RĂ€ngen herab ertönten. Deshalb â und auch weil es dort oben meist sehr eng ist â wird dieser Bereich des Theaterraums bis heute auch âpoulaillerâ â âHĂŒhnerstall â genannt.[11]

âEs gab damals nur zwei PlĂ€tze im Theater, die fĂŒr einen SchĂŒler in Betracht kamen: das Stehparterre, an der hintersten Wand, und, etwas spĂ€ter, die Galerie, die wir auch den âOlympâ oder die âBullerlogeâ nannten, womit in der Sprache meiner Heimat alles Notwendige ausgedrĂŒckt ist.â[12] So schrieb der Schriftsteller Ernst Wiechert ĂŒber einen Besuch des Stadttheaters von Königsberg (Kaliningrad) im Jahr 1898. Wiechert war damals zwölf Jahre alt, und wenn er auf die âSprache seiner Heimatâ verweist, so meint er damit das Deutsch, so wie es in OstpreuĂen gesprochen wurde. Da bedeutete das Wort âbullernâ âpoltern, stark klopfenâ[13], und die âBullerlogeâ definierte das âPreussische Wörterbuchâ als âLoge, in der gebullert, gepoltert wird, die Gallerie [!] im Theater, als der unruhigste Platz.â[14] Damit entsprach sie dem, was in Berlin bis heute und meist ironisch als âTrampellogeâ bezeichnet wird.

Hoch oben, da mag das Paradies sein â und so passt auch dieser Ausdruck fĂŒr den Platz aller Theaterbegeisterten. Im Deutschen findet er sich ebenso wie im Französischen, wo er auch in die Filmgeschichte eingegangen ist: âLes Enfants du paradisâ heiĂt ein 1945 unter der Regie von Marcel CarnĂ© und nach einem Buch von Jacques PrĂ©vert gedrehter Film. Der Streifen mit Arletty, Jean-Louis Barrault und Pierre Brasseur in den Hauptrollen spielt im Pariser Theatermilieu Mitte des 19. Jahrhunderts, einer der zentralen SchauplĂ€tze ist das Pariser âThéùtre des Funambulesâ. FĂŒr den Film wurde das 1862 abgerissene GebĂ€ude rekonstruiert, und immer wieder ist im Verlauf der Handlung das Publikum auf den obersten RĂ€ngen des Theaters zu sehen. Denn es war âPrĂ©verts Lieblingspublikum, das wahre Publikum, jenes, das reagiert, jenes, das teilnimmtâ[15], vermerkt dazu die PrĂ©vert-Biografin Carole Aurouet.

âLes Enfants du paradisâ â 1947 fĂŒr einen Oscar, Kategorie âOriginal Screenplayâ, nominiert â heiĂt in der englischen Fassung âChildren of Paradiseâ, was allerdings wenig aussagekrĂ€ftig ist. Denn im Englischen ist nicht davon die Rede, dass man im Theater hoch oben im Paradies sitze, sondern âin âThe Godsââ. Der Filmtitel wĂ€re also eher â so wie 1947 in einer Besprechung in der âNew York Timesâ[16] â mit âChildren of the Godsâ zu ĂŒbersetzen. Der Titel der deutschsprachigen Fassung des Filmes lautet ĂŒbrigens âKinder des Olympâ. Bei den Göttern zu sitzen verweist auf die Höhe, der Ausdruck (im Londoner Theaterleben seit dem 18. Jahrhundert nachweisbar) wird aber auch damit erklĂ€rt, dass die Decken vieler Theater mit mythologischen Szenen bemalt waren[17].
PopulĂ€r ist im englischsprachigen Raum auch die Bezeichnung âPeanut Galleryâ â âErdnuss Galerieâ. Es heiĂt, sie sei darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass ErdnĂŒsse stets der billigste Snack am Theaterbuffet waren und daher auch vom Publikum oben auf den kostengĂŒnstigen PlĂ€tzen gerne genossen â oder als Missfallenskundgebung auf die BĂŒhne geschossen wurden.[18] Im ĂŒbertragenen Sinn â als âöffentliche Meinung â wird âpeanut galleryâ auch heutzutage oft verwendet. So etwa schrieb die Londoner âSunday Timesâ in Zusammenhang mit dem RĂŒcktritt der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon, viele Leute seien âtoo intimidated by the barrage from the peanut gallery to voice their true opinionsâ[19] (âzu sehr eingeschĂŒchtert durch das Trommelfeuer von der Peanut Gallery, um ihre wahre Meinung zu Ă€uĂernâ).
âJuchheâ kann da wohl nicht gerufen werden â auch nicht vom âJucheeâ herab.
[1] Schreibung gemĂ€Ă: Ăsterreichisches Wörterbuch. Wien 1990, S. 263.
[2] Hornung, Maria: Wörterbuch der Wiener Mundart. Wien 1998, S. 486.
[3] Duden online, Stichwort âJuchheâ, www.duden.de (abgerufen 7.3.2023).
[4] Langenscheidts GroĂes Schulwörterbuch Französisch-Deutsch, Berlin u. MĂŒnchen 2001, S. 749.
[5] Bermann, Moritz: Das illustrirte Geschichtenbuch vom Kaiser Josef. Wien, um 1882, S. 513.
[6] Signale fĂŒr die musikalische Welt. Leipzig, August 1891, Heft 45, S. 2.
[7] s. Die Presse. Abendblatt. Wien, 20.2.1892, S. 2.
[8] Z.B. Wiener Allgemeine Zeitung. 15.10.1895, S. 5. // Wiener Theater-Zeitung. 1.1.1898, S. 5.
[9] Bahr, Hermann: Zischen. In: Die Zeit, Wien, 19.10.1895, S. 43.
[10] Blum, Robert u.a. (Hg.): Allgemeines Theater-Lexikon oder EncyklopĂ€die alles Wissenswerthen fĂŒr BĂŒhnenkĂŒnstler, Dilettanten und Theaterfreunde. Altenburg u. Leipzig, 1842, Bd 6, S. 86.
[11] Rigaud, Lucien: Dictionnaire d’argot moderne. Paris 1881, S. 310 (âPoulailler: parce que le public des petits théùtres se plaĂźt Ă imiter parfois les cris de certains animaux et principalement le chant du coq.â). // Pougin, François Auguste Arthur P.: Dictionnaire historique et pittoresque du theĂątre et des arts qui s’y rattachent. Paris 1885, S. 582 (âpoulailler, sans doute parce que, le nombre des places nây Ă©tant pas limitĂ©, les spectateurs de cette rĂ©gion Ă©taient serrĂ©s comme poules dans un polaillerâ).
[12] Wiechert, Ernst: âDu holde Kunstâ In: Ernst Wiechert: WĂ€lder und Menschen. Eine Jugend. MĂŒnchen 1936. Online: https://www.projekt-gutenberg.org/wiechert/waelder/titlepage.html (abgerufen 7.3.2023).
[13] Frischbier, Hermann: Preussisches Wörterbuch. Ost- und Westpreussische Provinzialismen in alphabetischer Folge. Berlin 1881, Bd 1, S. 117. Online: https://dlibra.bibliotekaelblaska.pl/dlibra (abgerufen 7.3.2023).
[14] Ebenda.
[15] âCâest le public prĂ©fĂ©rĂ© de PrĂ©vert, le vrai public, celui qui rĂ©agit, celui qui participeâ. Aurouet, Carole: Jacques PrĂ©vert, portrait d’une vie. Paris 2007. S. 239.
[16] Crowther, Francis Bosley: âLes Enfants du Paradisâ. Film From France. In: New York Times, 20.2.1947.
[17] Vgl. Idiom Origins https://idiomorigins.org/origin/up-in-the-gods (abgerufen 7.3.2023).
[18] Siehe z.B.: Parry, Becky u.a. (Hg.): Literacy, Media, Technology. Past, Present and Future. London 2017, S. 33. // Heim, Caroline: Audience as Performer. London, 2016, S. 59.
[19] Bowditch, Gillian: Eight years through the wringer for a failed vision. In: The Sunday Times, 19.2.2023.
7.3.2023